Hinter den Dingen

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Friederike Kroitzsch: Ein historisches Sitzungsprotokoll führt uns aus dem Hain des Helden Akademos vor den Toren Athens in den Versammlungssaal der Berliner Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert bis hin zur aktuellen Frage um politische Transparenz.

Thomas de Maizière: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern!“

Friederike Kroitzsch: Kann es dem Volke nützlich sein, betrogen zu werden? Was macht den Erfolg der Akademiepreisfragen aus? Und – was ist denn da los im Sitzungssaal?

Friederike Kroitzsch: Guten Tag. Ich bin Sophie Ruch und Sie hören:

Friederike Kroitzsch: (Jingle) Hinter den Dingen. 5.000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören

Friederike Kroitzsch: Die Berliner Volksbetrugsfrage.

Friederike Kroitzsch: Vor mir liegen die zu einem Buch zusammengebundenen Sitzungsprotokolle der Berliner Akademie der Wissenschaften, die sog. „Registres“. Aufgeschlagen ist das Protokoll der Sitzung vom 1. Juni 1780. Es ist handschriftlich in französischer Sprache verfasst und erstreckt sich über drei Seiten. Das vergilbte Papier ist an seinen Rändern leicht verfärbt. Der Text ist mit Feder und schwarzer Tinte luftig, fehlerfrei und gut leserlich verfasst, allerdings weisen die Unregelmäßigkeiten im Zeilenabstand und dem Abstand zum Rand auf einen rasch verfassten „Gebrauchstext“ hin. Da die Seiten des Bandes beidseitig beschrieben wurden, schimmert der Text der Rückseite auf der Vorderseite durch. Das Protokoll beginnt mit dem Datum und dem Hinweis, dass es sich um eine öffentliche Sitzung handelt.

Gesa Ufer: Herzlich Willkommen im Sitzungssaal der Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin. Gerade in diesem Augenblick beginnt hier die öffentliche Sitzung. Die Anwesenden haben sich erhoben, da nun zur Eröffnung der Sitzung der ständige Sekretär der Académie Jean Formey eine Lobrede auf König Friedrich den Großen halten wird. Wir feiern heute nämlich das 40jährge Thronjubiläum des Königs. Friedrich selbst kann leider heute nicht anwesend sein.

Matthias Kelle: Acht Lustren sind seit der Thronbesteigung unseres erhabenen Monarchen verronnen.

Gesa Ufer: Ein Lustrum bezeichnet den Zeitraum von fünf Jahren.

Matthias Kelle: Ich vergleiche diese vierzig Jahre mit den 168 Gläsern der Vereinigung, derer sich der moderne Plinius 1747 bediente, um den berühmten Spiegel des Archimedes zu erneuern. Jedes dieser Jahre wirft Lichtstrahlen, die zu demselben Brennpunkt zusammenführen, in dem das erstaunte Europa den Ruhm Friedrichs bewundert. Möge sein Glanz mindestens noch bis zum zehnten erreichten Lustrum weiter funkeln.

Gesa Ufer: Und jetzt werden die Sieger unter den Antwortenden auf die Preisfragen verkündet. Der eiserne Korb mit den versiegelten Umschlägen wird gerade in diesem Moment hereingetragen.

Matthias Kelle: Die Klasse für Spekulative Philosophie hat die außerordentliche Preisfrage gestellt: Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?

Gesa Ufer: Überraschenderweise hält der Sekretär jetzt zwei Umschläge in der Hand, um den Sieger zu verkünden. Das ist in der Tat sehr ungewöhnlich.

Matthias Kelle: Die Antwortschriften, die in großer Anzahl zum Wettbewerbe eingesandt worden sind, wurden in zwei Gruppen unterteilt. Eine umfasst diejenigen, die die Frage verneinten, und die andere diejenigen, die sie bejahten, sei es umfassend und einfach oder unter bestimmten Bedingungen und Einschränkungen. Diese beiden Klassen schienen uns ein gleiches Recht zu haben auf den Preis, der also aufgeteilt wird zwischen den besten jeder Klasse.

Gesa Ufer: Das hat es noch nie gegeben. Zwei Sieger für inhaltlich gegensätzliche Antworten … Erstaunen unter den Gästen … jetzt wird aber erstmal der erste versiegelte Umschlag geöffnet. Zunächst die in französischer Sprache verfasste Antwort, die die Frage verneint. Es kann nicht im Sinne des Volkes sein, betrogen zu werden. Es ist der Umschlag mit dem Motto:

Matthias Kelle: Homo sum: Humani nihil a me alienum puto.

Gesa Ufer: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.

Matthias Kelle: Herr Becker, Gouverneur des Barons von Dacheroeden in Erfurt, Thüringen.

Gesa Ufer: Und jetzt wird der Text gekürt, der dem Volksbetrug einen Nutzen zuschreibt. Ebenfalls ein auf Französisch verfasster Text mit dem passenden Motto: „Dem kranken Kinde pflegt man Arznei zu reichen // Und des Gefäßes Rand mit Honig zu bestreichen // Getäuscht trinkt es nun den bittern Heilungssaft // Und Leben ist der Preis, den Irrtum ihm verschafft.

Matthias Kelle: Herr de Castillon, Sohn, Professor der Mathematik an der Académie royale des Gentilhommes.

Gesa Ufer: Eine interessante Wahlentscheidung. Der Sekretär verliest nun die bei dieser Preisfrage offensichtlich zahlreichen mit dem Acccessit, also der lobenden Erwähnung ausgezeichneten Schriften. Er trägt die Motti dieser Schriften vor und entfernt die Umschläge aus dem Eisenkorb. Wenn er damit fertig ist, wird er, wie üblich, die restlichen Umschläge verbrennen.

Friederike Kroitzsch: Unterbrechen wir diese außer Kontrolle geratene Re-Inszenierung der Akademiesitzung vom 1. Juni 1780 und versuchen zu klären, was wir da gehört haben, was es mit den Preisfragen, den Motti und den verbrannten Umschlägen auf sich hat. Dazu haben wir mit der Romanistin Isabelle Fellner gesprochen, die sich mit der sogenannten Volksbetrugs-Preisfrage beschäftigt hat.

Isabelle Fellner: Hallo.

Friederike Kroitzsch: Ebenso mit dem Historiker und Romanisten Dr. Martin Urmann, der die Preisfragenpraxis an den französischen Akademien erforscht.

Martin Urmann: Guten Tag.

Friederike Kroitzsch: Beide arbeiten am Sonderforschungsbereich „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin. Wir hörten das Protokoll einer Sitzung der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Sie hat heute eine Nachfolgerin in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Entstanden ist die Königliche Akademie im Jahre 1700 nach dem Vorbild der Akademien in Frankreich, deren prominenteste die Pariser Académie française ist, die 1635 gegründet wurde. Daher schauen wir in dieser Folge auch immer auf die französischen Akademien, wenngleich sich diese auf noch ältere Vorbilder, nämlich die Akademien der italienischen Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts beriefen. Doch zunächst ganz allgemein. Was sind und was machen Akademien?

Martin Urmann: Das Ziel der Akademien ist sozusagen idealer Weise die gemeinschaftliche Wissensdiskussion und Wissensproduktion unter Freien und Gleichen, an, so ist das Idealbild seit der Renaissance, an besonders lieblichen oder sozusagen räumlich hervorgehobenen Orten, wie eben gerne jene Gärten oder Haine, die natürlich alle irgendwie das antike Ideal der ersten Akademie zitieren. Also da denkt man natürlich vor allem und als Erstes an die platonische Akademie, also die Philosophenschule Platons aus dem 4 Jh. vor Christus in Athen. Der Begriff leitet sich vom Ort dieser Schule her, dem Hain des griechischen Helden Akademos vor den Toren Athens.

Friederike Kroitzsch: Im 17. Jahrhundert grenzen sich die frisch gegründeten Akademien bewusst und deutlich von den Universitäten ab, als neue Institutionsform, die neue Wege einschlägt, um Wissen zu generieren. In den Akademien wird nicht unterrichtet, man kann dort keinen Abschluss erlangen. Akademien sind zu der Zeit reine Gelehrtenbünde,

Martin Urmann: … und natürlich also männliche Gelehrtenbünde, muss man gleich mit hinzu sagen …

Friederike Kroitzsch: … die gemeinsam Wissen verhandeln, prüfen und verbreiten. In der eben gehörten Sitzung von 1780 wird aber zunächst dem Monarchen gehuldigt. Das hängt mit einer entscheidenden Entwicklung zusammen. Bestanden die italienischen Akademien der Renaissance noch aus Gruppen von Gelehrten, die sich mehr oder weniger spontan zu einer Akademie zusammentaten, wird im Frankreich des 17. Jahrhunderts das Akademiesystem in großem Stil staatlich aufgezogen …

Martin Urmann: … mit Akademiegründungen nicht nur in Paris, eben also Académie française, Académie Royale des Sciences und die großen Kunstakademien, sondern darüber hinaus sogar Gründungen in der Provinz, bis hin zu Orten, die in der Gelehrtengeschichte also sehr wenig Tradition haben, wie Pau und Montaubaun, und die sind, unterschiedlich intensiv, aber die sind vom Staat getragen, auch finanziell getragen.

Isabelle Fellner: Die Berliner Akademie wurde 1700 unter Friedrich dem I. gegründet. Sie hieß zunächst Kurfürstlich Brandenburgische Societät der Wissenschaften, das aber nur bis 1701, dann danach Königlich Preußische Societät der Wissenschaften bis 1740, und Friedrich II. hat die Akademie dann neu gegründet, und ihr neue Statuten gegeben und sie hieß dann Académie Royale des Sciences et de Belles-Lettres de Berlin.

Friederike Kroitzsch: Friedrich II. war schon vor seiner Thronbesteigung an der Arbeit der Akademie interessiert, die in seinen Augen vor sich hin darbt.

Isabelle Fellner: … und hat dann viel daran gesetzt sie neu aufzusetzen und sie wiederzubeleben, und dass er großes Interesse an der Akademie hatte, zeigt sich auch an einem Brief, den er 1737 an Voltaire gesendet hat, in dem er sagt:

Matthias Dittmer: Unsere Universitäten und unsere Akademien der Wissenschaften sind in einem traurigen Zustand. Es scheint als wollten die Musen aus diesen Breiten fliehen.

Friederike Kroitzsch: Die Musen blieben, denn die neu aufgelegte Berliner Akademie genießt bald großes Ansehen in Europa. Doch hören wir nochmal in den Anfang der Sitzung hinein.

Matthias Kelle: Die Klasse für Spekulative Philosophie hat die außerordentliche Preisfrage gestellt …

Isabelle Fellner: Es gab vier Klassen. Einmal die Philosophie Experimentale, also die praktische Philosophie, die befasste sich mit Naturwissenschaften, Chemie, Anatomie, Botanik, dann gab es eine Mathematische Klasse, eine Philosophie Spekulative, theoretische Philosophie, das ist die, die besonders interessant ist, weil es eine solche Klasse an anderen Akademien zu der Zeit eigentlich nicht gegeben hat, und dann gab es auch noch eine Klasse „Belle-Lettres“.

Friederike Kroitzsch: Preisfragen sind regelmäßig ausgetragene schriftliche Wettbewerbe, bei denen Wissensfragen von öffentlichem Interesse zu wechselnden Themen ausgelobt werden. Unter den Einsendungen wird von einer Jury ein Sieger oder auch eine Siegerin gekürt. Zu gewinnen gibt es dabei ein stattliches Preisgeld, aber auch die Veröffentlichung des preisgekrönten Manuskripts. Die erste Preisfrage stellt die Académie française im Jahr 1670. Es war gefordert, rhetorisch möglichst ausgefeilt über das Thema „Lobpreis und Ruhm“ zu schreiben. Der Preis geht an die bekannte Schriftstellerin Mademoiselle de Scudéri. Richten sich also die Preisfragen hauptsächlich an bekannte Gelehrte der Zeit?

Martin Urmann: Dass mit der Scudéri eine bekannte Persönlichkeit ausgezeichnet wurde, ist für den Concours nicht ungewöhnlich, aber auch nicht wirklich typisch für den Concours – Concours académique, ne … das ist sozusagen der zeitgenössische Name für die für die Preisfragen, oder Prix académique auch – die Geschichte des Concours ist nämlich vor allem die Geschichte von unbekannten bzw. erst in Folge der Preisfragen zur Berühmtheit gelangten Autorinnen und Autoren, die an dieser, wenn man so will, Ruhm verheißenden Veranstaltung der französischen Akademien teilnehmen wollten.

Friederike Kroitzsch: Die Teilnahme an den Preisfragewettbewerben ist durch keine Auflagen eingeschränkt. Im Selbstverständnis der Akademien richten sich die Fragen potentiell an alle, die schreiben können, wie in den Regularien der Académie française von 1671 nachzulesen ist.

Martin Urmann: „Jedwede Art von Person unabhängig von ihren Eigenschaften ist eingeladen an diesem Preisausschreiben teilzunehmen.“ Der Concours académique, kann man ganz ein bisschen plakativ sagen, war also zunächst mal offen für alle – offen für alle, insofern es keinerlei formalen Ausschluss über Stand, Geschlecht oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Bildungsinstitution gab. Und das macht den Concours académique wirklich zu einem außergewöhnlichen, ja man könnte sagen, zu einem einzigartigen Medium der Gelehrtendiskussion in der Frühen Neuzeit. Ausgeschlossen sind nur Mitglieder der ausschreibenden Akademie selbst, aber nicht von anderen Akademien, selbst vom Ausland konnte man teilnehmen. Ansonsten sind aber noch nicht mal Andersgläubige oder Exkommunizierte irgendwie ausgeschlossen. Und das heißt natürlich auch: Beim Concours haben auch Frauen teilgenommen und den tatsächlich auch mehrere Preisausschreiben gewonnen.

Friederike Kroitzsch: In Frankreich sind für alle Akademien zwischen 1670 und 1793 insgesamt über 2300 verschiedene Preisfragen dokumentiert, die aber nicht immer als Frage formuliert sind.

Matthias Dittmer: Über die Reinheit des Geistes und des Körpers. // Ist die Pest ansteckend? // Über die Ursachen der Schwerkraft. // Welches sind die Ursachen für die Abnahme des Fischfangs an den Küsten der Provence und mit welchen Mitteln ist dieser wieder ergiebig zu machen? // Welches sind die geeignetsten Materialien, um gute Dochte herzustellen? Gibt es eventuell solche, die auch mehrere Stunden lang leuchten können? Und welches sind die geeignetsten Formen für Lampen- oder Fackelhalterungen?

Martin Urmann: Ab den 1720 Jahren ungefähr kommen auch hier neue Themenstellungen auf, die sich an den aktuellen Wissensfragen und kulturellen Debatten der Zeit orientieren. Die Fragen nehmen jetzt insbesondere die veränderte Stellung der Wissenschaften und Künste in den Blick, den Wandel der Sitten, die Regeln des Geschmacks und auch die Rolle der sich formierenden kritischen Öffentlichkeit. Diese Entwicklung wird am Ende zu Fragen führen, die philosophisch komplex und speziell sind wie etwa diejenige der Akademie von Montauban für das Jahr 1767, die übersetzt lautet: „Ist es nützlich für die Gesellschaft, dass das Herz des Menschen ein Geheimnis ist.“ – Eine Frage, die ich auch persönlich schon von der Fragestellung her sehr gerne mag und die mit einer ganz düsteren pessimistischen Antwort versehen wird, die auch also gekürt wird, ne. Preisfragen, kann man sagen, werden also immer mehr zu einem Medium der Reflexion der zeitgenössischen Wissensproduktion.

Matthias Kelle: Die Klasse für Spekulative Philosophie hat die außerordentliche Preisfrage gestellt: Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?

Friederike Kroitzsch: Das ist der volle Wortlaut der Preisfrage, die wir vereinfachend auch als Volksbetrugsfrage bezeichnen. Außerordentlich ist an dieser Frage, dass sie nicht, wie sonst üblich, von den Mitgliedern der Klasse für Spekulative Philosophie gestellt wird, obwohl es in unserem Protokoll so behauptet wird. Die Akademie folgt mit der Preisfrage einer königlichen Direktive. Um das zu verstehen, hören wir in die Preisfrage hinein, die die Klasse für Spekulative Philosophie zuvor im Jahre 1777 gestellt hatte.

Matthias Dittmer: In der gesamten Natur beobachtet man Wirkungen: es sind also Kräfte am Werk. Aber, um zu wirken müssen diese Kräfte bestimmt sein; dies setzt voraus, dass es etwas Wirkliches und Dauerhaftes gibt, das bestimmt werden kann; und es ist dieses Wirkliche und Dauerhafte, was man ursprüngliche und substantielle Kraft nennt. Die Akademie fragt daher: „Wie genau kann man sich diese ursprüngliche und substantielle Kraft vorstellen, die, wenn sie determiniert ist, eine Wirkung hervorruft? Oder, in anderen Worten, was ist das fundamentum virium?“

Friederike Kroitzsch: Und das war erst ein Drittel des Fragetextes. Friedrich der Große schreibt der Akademie, in Reaktion darauf, folgenden Brief:

Matthias Dittmer: Da Unser beständiges Ziel der Fortschritt der philosophischen Aufklärung ist, so wünschen Wir, daß die Klasse für spekulative Philosophie als Preisfragen nur solche Themen ausschreibt, die interessant sind und Nützlichkeit haben, und daß sie anstelle der letzthin ausgeschriebenen Preisfrage, die nicht recht verständlich ist, das folgende Thema übernähme: 'Ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehen'.

Isabelle Fellner: Genau, also hier sehen wir, dass Friedrich diese Frage nach dem Ursprung der Dinge oder nach der ursprünglichen Kraft stark kritisiert, und dass er der Akademie befiehlt, diese Frage zurückzuziehen, und dass er weiterhin fordert, dass die Akademie nützliche Fragen stellt, und nicht solche, wie er scheinbar annimmt, absolut unnützen Fragen wie diese langwierige Frage nach dem Ursprung der Dinge, und was er dann auch noch fordert ist, dass die Akademie diese Frage ersetzt mit der Frage nach dem Volksbetrug, nämlich ob es nützlich sein kann, das Volk zu hintergehen.

Friederike Kroitzsch: Eine heftige Einmischung in die Belange der Akademie. Vorangegangen war ein langer Briefwechsel zwischen Friedrich und dem französischen Aufklärer Jean-Baptiste D’Alembert, in dem sie sich seit längerem über die Frage stritten, ob das Volk betrogen werden dürfe. Es war sicherlich schwierig für die Akademie, auf diesen Brief zu reagieren.

Isabelle Fellner: Die Akademie war natürlich nicht gerade glücklich über diesen starken Eingriff … Und die Mitglieder der philosophischen Klasse haben dann einen Brief an Friedrich verfasst, in dem sie erstens versucht haben die etwas brutal klingende Frage nämlich: „Ist es nützlich, das Volk zu betrügen?“ umzuformulieren und etwas zu entschärfen … und sie haben ihn eben darum gebeten, die Volksbetrugsfrage auf eine andere Art stellen zu können und nicht die Fundamentum virium-Frage zurückzunehmen.

Friederike Kroitzsch: In diesem Brief, von dem nur ein Entwurf mit Randbemerkungen erhalten ist, macht die Akademie einen kleinen Vorstoß, indem sie Friedrich drei Varianten der Volksbetrugsfrage zur Auswahl anbietet. Die von Friedrich Vorgeschlagene:

Matthias Dittmer: Kann es nützlich sein, das Volk zu hintergehen.

Friederike Kroitzsch: Eine zweite Variante:

Matthias Dittmer: Ist es für das Allgemeingut nützlich, die Wahrheit vor dem Volk zu verbergen, seine Irrtümer wach zu halten oder ihm (neue) einzureden?

Friederike Kroitzsch: Und die Fassung, der Friedrich letztendlich zugestimmt hat.

Matthias Kelle: Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?

Isabelle Fellner: Also die Ausgangsversion von Friedrich war ja: Ist es nützlich, das Volk zu betrügen? Das hat sich dann dahingehend verschoben, dass es am Ende geheißen hat: Ist es für das Volk nützlich, betrogen zu werden? Da sieht man gleich, das ist ja ein fundamentaler Unterschied. Die Frage, die Friedrich eigentlich gestellt hat, ist eine Frage aus der Herrschaftsperspektive heraus: Ist es für mich als König nützlich das Volk zu betrügen. Die Frage, wie sie dann im Endeffekt gestellt worden ist, ist vielmehr: ist es für das Volk nützlich, worauf die Antworten dann ja auch eingegangen sind. Ist es für das Glück des Volkes wichtig, dass es in manchen Bereichen betrogen wird. Das Subjekt ist ganz ein anderes. In einem Fall geht es darum: Ist es für den Herrscher nützlich, im zweiten Fall geht es darum, ist es für das Volk nützlich.

Friederike Kroitzsch: Die Akademie kann sich also in beiden Belangen durchsetzen. Die Ursprungsfrage wird nicht zurückgezogen und die Perspektive der Volksbetrugsfrage wird zugunsten eines Nutzens für das Volk verschoben. Es lässt sich nicht genau sagen, was Friedrich mit dieser Frage bezweckt hat. Denn für ihn stand die Antwort eigentlich schon fest.

Isabelle Fellner: Er war nämlich der Ansicht, dass das Volk im Endeffekt nicht aufklärungsfähig ist. Man muss sich damit zufriedengeben, selber weise zu sein, sofern man es kann, und das gemeine Volk im Irrtum belassen und nur versuchen, es von Verbrechen abzuhalten, die die Ordnung der Gesellschaft stören.

Matthias Dittmer: Diese Überlegungen bringen mich also zu der Überzeugung, dass die Oberflächlichkeit, der Aberglaube und die Überängstlichkeit der schwachen Geister, stellt man das Volk auf die Waage, immer das Übergewicht haben, in allen Zeiten die Zahl der Philosophen klein sein und irgendein Aberglaube stets die Welt beherrschen wird. Es wäre verlorenes Mühen, wollte man die Menschheit aufklären.

Friederike Kroitzsch: König Friedrich traut seinen Untertanen in dieser Aussage nicht besonders viel zu.

Isabelle Fellner: D’Alembert hingegen ist völlig anderer Ansicht. Er lehnt den Volksbetrug durch und durch ab.

Matthias Dittmer: Ich für meinen Teil glaube, dass man die Menschen immer die Wahrheit lehren muss, und dass es nie wirklich vorteilhaft ist, sie zu betrügen.

Friederike Kroitzsch: Diese Aussagen verweisen bereits darauf, worum es in der Volksbetrugsfrage ging: um Aberglaube, die Rolle von Religion und Volksglaube und die grundsätzliche Frage der „Aufklärbarkeit“ der „Masse“. Aber welche Reaktionen ruft die Frage heute hervor? Wir haben im ländlichen Baden-Württemberg und in Berlin eine leicht abgewandelte Volksbetrugsfrage gestellt. Also: Kann es für die Bevölkerung nützlich sein, getäuscht zu werden?

00:23:06: Das ist doch heutzutage nichts anderes. Glauben Sie denn, dass das, was uns alles erzählt wird, die Wahrheit ist? Ich glaub es nicht, also nicht alles.

00:23:15: Ich bin eine alte Frau, ich muss nicht alles wissen, weil das belastet einen ja zum Teil auch.

00:23:23: Ich bin da ein bisschen zwiegespalten. Also, ich möchte schon alles wissen, aber ich glaube, es ist besser so, dass wir nicht alles wissen.

00:23:29: Man muss sich halt umfassend informieren und das kann man ja eigentlich jetzt überall, weltweit. Man muss halt schauen und muss sich sein eigenes Urteil bilden.

00:23:36: Also, ich glaube, die Gesellschaft ist ganz froh darüber. Die lassen sich ja gern durch nichtssagende Fernsehsendungen ablenken. Vielleicht ist es besser so.

00:23:46: Aber eigentlich denken wir ja, wir wissen alles, und die Medien erzählen uns alles und wir sind voll informiert.

00:23:52: Natürlich ist es nicht schön, betrogen zu werden. Aber wenn es so allgemein der Menschheit nützt und den nachfolgenden Generationen … ist vielleicht auch mal ganz gut, ein bisschen betrogen zu werden.

00:24:00: Aber dabei ist es doch eigentlich immer so, dass wir manipuliert werden, und irgendwann merkt man dann, oder erfährt man, dass das eigentlich nicht die Wahrheit gewesen ist.

00:24:09: Ich glaube, es ist Vielen nützlich, ja ganz sicher, weil es die eigene Zufriedenheit besser bedeckt. Man kann zufrieden bleiben, ohne sich weiter Gedanken zu machen, und empfindet das als: alles ok.

00:24:24: Ich glaub, da wird viel verabredet und einfach untereinander abgesprochen, von dem wir nichts wissen und das man auch nicht will, das wir das wissen. Das bringt mehr Ruhe ins Land.

Friederike Kroitzsch: Um genauer fassen zu können, was für eine Reichweite die Frage im 18 Jh. hatte, haben wir mit Frau Professorin Traninger von der Freien Universität Berlin gesprochen und sie um eine knappe Einordnung der Volksbetrugsfrage in den breiteren Kontext der Aufklärungsdebatten der Zeit gebeten.

Anita Traninger: Also mit dieser Frage, und man muss das wirklich so zugespitzt sagen, steht nichts weniger auf dem Spiel, als die Reichweite der Aufklärung selbst. Die Aufklärung beginnt ja als eine philosophische Bewegung, wo es in erster Linie darum geht, sich selbst aufzuklären. Das heißt, Klarheit zu erlangen über Ideen, und das ist im Grundsatz eine philosophische Vorstellung davon, wie das Individuum zu einer Klarheit im Denken kommen soll. Also eine Tätigkeit, die der Einzelne vollführen soll. Am Ende des Jahrhunderts, am Ende des 18. Jahrhunderts, und dahin bewegen wir uns ja jetzt schon mit dieser Preisfrage, ist Aufklärung etwas Anderes geworden, da geht es dann darum, das Volk aufzuklären. Die Aufklärung als ein Programm, das sozusagen auf jemand anderen, auf einen Aufzuklärenden einwirkt. Das ist ein fundamentaler Wandel, der nicht leicht miteinander zu versöhnen ist. Und in der Frage selbst klingen ein paar Begriffe an, die ziemlich problematisch sind im Kontext dieses Aufklärungsdenkens. Das eine ist natürlich die Sache der Täuschung. Täuschung ist ein diametral entgegengesetzter Begriff zur Aufklärung, das ist das erste Skandalon, das drinsteckt, das zweite ist, dass wir die Frage des Volkes drinnen haben, und das Volk ist im 18. Jahrhundert ein Begriff dessen Extension, also dessen Reichweite, zur Debatte steht. Wer ist dieses Volk, das getäuscht wird? Sind es die Ungebildeten, der Pöbel, so wird es ja auch in einigen Antworten auf die Preisfrage ausgelegt. Ist es der Pöbel, der von Vorurteilen befallen ist, der in seinen Vorurteilen gefangen ist, und um den man sich kümmern muss, oder eben nicht? Oder sind das alle Bürgerinnen und Bürger einer Nation. Sind es die Gelehrten, die Adeligen, die Bürger eingeschlossen. Das ist eine zentrale Frage, die im 18. Jh. heiß diskutiert wird, und je nachdem, wie man diesen Begriff des Volks definiert, ist diese Frage skandalöser oder weniger skandalös.

Gesa Ufer: … wenn er damit fertig ist, wird er, wie üblich, die restlichen Umschläge verbrennen.

Matthias Kelle: Die mathematische Klasse legt für das Jahr 1782 die folgende Frage vor: Beschreiben sie die Flugkurve von Kugeln und Bomben unter Berücksichtigung des Luftwiderstands und formulieren sie Regeln für deren jeweilige Reichweite in Abhängigkeit von verschiedenen Anfangsgeschwindigkeiten und verschiedenen Abschusswinkeln. Die Akademie fordert darüber hinaus: Dass diese Regeln durch Experimente bestätigt seien und dass sie leicht zu Tabellen vereinfachbar seien. Zugleich verlangt sie schließlich eine Prüfung dieser Tabellen.

Friederike Kroitzsch: Wir hörten gerade, wie eine neue Frage, die die Akademie intern ausgearbeitet hat, der Öffentlichkeit verkündet wird. Das ist aber wohl nicht der einzige Weg, auf dem die Fragen verbreitet werden:

Martin Urmann: Bei der Publikmachung der Themen des Concours haben die Akademien tatsächlich nichts dem Zufall überlassen, daran sieht man auch wie wichtig ihnen die Preisfragen waren, und dass es ihnen ganz essentiell darum ging, wirklich damit an die Öffentlichkeit zu kommen.

Friederike Kroitzsch: Nach der mündlichen Verkündung werden die Ausschreibungen schriftlich verbreitet.

Martin Urmann: Einerseits also die von der Akademie verteilten Programme, anderseits öffentliche Aushänge, muss man sich wirklich wie Poster im öffentlichen städtischen Raum vorstellen, die sogenannten Affiches. Vor allem aber eben durch die periodische Presse, die ja also in den 1660 Jahren entsteht. Damit konnten die Ausschreibungen auch überregional bekannt gemacht werden und dieses Verbreitungsmittel, eben das über den gelehrten Journalismus, war den Akademien tatsächlich besonders wichtig. Und bald auch entstanden in den Zeitschriften eigene Rubriken ausdrücklich für die Verzeichnung von Preisfragen.

Friederike Kroitzsch: Wie wir gehört haben, können alle mitmachen, die des Schreibens mächtig sind. Wie wird denn sichergestellt, dass die Jury auch alle Einsendungen gleich behandelt? Hat es etwas mit diesen lateinischen „Motti“ zu tun, die in unserem Protokoll verlesen werden?

Gesa Ufer: Es ist der Umschlag mit dem Motto:

Matthias Kelle: Homo sum: Humani nihil a me alienum puto.

Gesa Ufer: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.

Martin Urmann: Bei der Einreichung der Manuskripte greift eine besondere Regel, die der allgemeinen öffentlichen Zugänglichkeit des Concours erst ihre ganze Durchschlagskraft gibt. Sowohl die Einreichung der Preisschriften, als auch deren Bewertung durch die Akademie erfolgten anonym, also ohne dass der Name des oder der Verfasserin bekannt war. Es geht also, und das ist in der alteuropäischen Ständegesellschaft wirklich außergewöhnlich, ohne das Ansehen der Person vonstatten. Also Anonymität kennen wir auch aus anderen Kontexten, dass man Schriften anonym publiziert, um die Zensur irgendwie umzugehen. Aber dass es wirklich Teil des Verfahrens ist, das ist schon was Besonderes. Praktisch bedeutete das Anonymitätsgebot, dass die Teilnehmer eines Concours zusammen mit ihrer Preisschrift noch einen weiteren versiegelten Brief beim Sekretär der Akademie einreichten. In diesem gab man seinen Namen an und das Motto, das man seiner Preisschrift vorangestellt hatte.

Friederike Kroitzsch: Die Antwortschrift hat also statt Benennung der Autorschaft ein Motto, ein berühmtes Zitat, sagen wir mal: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern!“

Martin Urmann: Dabei handelt es sich wirklich um, in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle, um ein lateinisches Zitat eines klassischen …

Friederike Kroitzsch: Ok, na gut, also: pars responsorum populum perturbaverit

Martin Urmann: … wirklich die erwartbaren Namen: Cicero, Horaz, Vergil, vielleicht noch Augustinus, ne, so die machen so das Gros sozusagen aus.

Friederike Kroitzsch: Ok, dann: Horaz: Odi profanum vulgus et arceo, Ich hasse den Pöbel und distanziere mich von ihm. Auf der Preisschrift also ein Motto eines Klassikers. Und erst im Umschlag, auf dem dieses Motto geschrieben steht, war der tatsächliche Name des Autors oder der Autorin lesbar. Daher ist bei unserer öffentlichen Sitzung das Ritual, das Siegel des Umschlags zu brechen, so wichtig, denn erst hier wird der Name des Siegers oder der Siegerin enthüllt. Bis dahin weiß die Akademie, die Jury, nicht, wer gewonnen hat.

Isabelle Fellner: Es ist auch bei der Volksbetrugsfrage zum Beispiel so, dass ein Wirt aus Schwäbisch Hall einen Beitrag eingesendet hat, der jetzt vielleicht nicht unbedingt so das Publikum ist, das man sich erwartet hat, das daran teilnimmt. Dieser Wirt hat allerdings leider seinen Namen in seinem Manuskript genannt, was verboten war, und deswegen ist er disqualifiziert worden.

Friederike Kroitzsch: Wer die Anonymität nicht wahrt, wird vom Verfahren also ausgeschlossen. Das sind im Falle der Volksbetrugsfrage vier Einreichungen. Wegen verspäteten Eingangs werden weitere 5 Antworten nicht zugelassen. Insgesamt wurden 42 Antworten eingesandt, was eine verhältnismäßig große Beteiligung für eine Preisfrage der Berliner Akademie ist.

Isabelle Fellner: Also übrig bleiben dann noch 33, die am Preisfragenverfahren teilgenommen haben. Von den 33 haben 20 die Frage verneint und 13 bejaht.

Friederike Kroitzsch: Wie wird in diesem Fall der Sieger gekürt? Bejahte die Siegerschrift den Volksbetrug, was die Ansicht des Monarchen bestätigt, oder wählte die Jury eine aus, die der Meinung des Monarchen widerspricht.

Matthias Kelle: Die Antwortschriften, die in großer Anzahl zum Wettbewerbe eingesandt worden sind, wurden in zwei Gruppen unterteilt. Eine umfasst diejenigen, die die Frage verneinten, und die andere diejenigen, die sie bejahten, sei es umfassend und einfach oder unter bestimmten Bedingungen und Einschränkungen. Diese beiden Klassen schienen uns ein gleiches Recht zu haben auf den Preis, der also aufgeteilt wird zwischen den besten jeder Klasse.

Isabelle Fellner: Es gibt verschiedene Punkte, die man beachten muss, was diese doppelte Entscheidung betrifft. Es ist einerseits natürlich, dass sich die Akademie Friedrich gegenüber in einer schwierigen Lage befindet, weil den Akademiemitgliedern sicher klar ist, was Friedrichs Meinung ist, das ist sicher kein Geheimnis. Und sie müssen jetzt eben entscheiden, ob sie entweder Friedrich widersprechen, was für die Akademie zu Problemen führen hätte können, wenn sie sich offen und deutlich gegen den König wenden. Wenn sie ihm aber zustimmen, könnten dann andere Akademiker oder Mitglieder der Öffentlichkeit ihnen vorwerfen, dass sie nicht unabhängig sind. Also, einerseits ziehen sie sich aus der Affäre, was den König betrifft, und andererseits sagen sie: Gut, philosophisch gesehen ist es vielleicht einfach nicht abschließend in eine Richtung zu beantworten.

Friederike Kroitzsch: Wenden wir uns nun den beiden Gewinnerschriften zu. Zunächst der Sieger, der die Täuschung des Volkes ablehnt.

Gesa Ufer: Zunächst die in französischer Sprache verfasste Antwort, die die Frage verneint. Es kann nicht im Sinne des Volkes sein, betrogen zu werden. Es ist der Umschlag mit dem Motto:

Matthias Kelle: Homo sum: Humani nihil a me alienum puto.

Gesa Ufer: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.

Matthias Kelle: Herr Becker, Gouverneur des Barons von Dacheroeden in Erfurt, Thüringen.

Friederike Kroitzsch: Rudolph Zacharias Becker ist 1780 28 Jahre alt, hat Theologie und Philosophie in Jena studiert und arbeitet als Hofmeister in Erfurt.

Isabelle Fellner: Die Volksbetrugsfrage war tatsächlich sozusagen sein Durchbruch in der wissenschaftlichen Welt. Er ist später noch ein recht berühmter Volksaufklärer geworden, der zum Beispiel das Not und Hilfs-Büchlein für Bauersleute verfasst hat, das sehr sehr weit verbreitet war.

Friederike Kroitzsch: In seinem Hilfsbüchlein versucht er beispielsweise medizinisches oder meteorologisches Wissen an die Bauern zu vermitteln und damit Aberglaube und Mythen über Krankheiten und Wetterphänomene zu bekämpfen. Becker ist überzeugt, man könne auch komplexes Wissen so darreichen, dass es nahezu jeder begreifen kann.

Isabelle Fellner: Und hier können wir auch sehen, dass er die Argumentation, die er in der Volksbetrugsfrage gefahren hat, dass es durchaus auch wirklich seine persönliche Überzeugung war, also dass man das Volk aufklären muss und soll, und dass es gut ist. Und er hat sich dann eben in dem weiteren Verlauf seines Lebens genauso betätigt, dass er viel dafür getan hat.

Friederike Kroitzsch: Becker argumentiert also klar gegen eine Täuschung des Volkes. Aber wie genau geht er in seiner Antwort vor? Amüsanterweise ist Becker selbst einem Irrtum aufgesessen bei seinem Plädoyer für die Wahrheit. Denn er stellt den Begriff „Vorurteil“ in den Mittelpunkt seiner Argumentation, was überrascht, da in der französischsprachigen Originalfassung der Frage von „Irrtümern“, „Erreur“ die Rede ist. Der Grund dafür ist profan. Becker erklärt es in einer Fußnote seiner Antwortschrift.

Matthias Dittmer: Man wird sich vielleicht wundern, dass ich fast immer den Begriff ‚Vorurteil‘ anstatt des Begriffs ‚Irrtum‘ benutze, den die Akademie verwendet hat, um ihre Frage zu stellen: der Grund hierfür ist, dass ich, nachdem ich die Ausschreibung der Frage in einer deutschen Gazette gelesen habe, in der man sich des Wortes Vorurteil bediente, meine Antwort auf dem Lande verfasst habe, wo ich keine Gelegenheit hatte, diesen Fehler zu bemerken.

Isabelle Fellner: Beckers Beitrag ist dann so aufgebaut, dass er zuerst eine Definition davon macht, was ein Vorurteil überhaupt ist. Er sagt, es ist ein gewohnheitsmäßig erfolgendes falsches Urteil … es ist was, was immer wieder passiert, was 'ne Gewohnheit ist, und nicht einfach ein Fehler, der einmal zufällig unabsichtlich passiert, das ist … wiederholt sich immer weiter. Dann definiert er auch noch das Volk, und zwar so, dass er sagt, das sind alle Bevölkerungsklassen, die nicht, was ihre Arbeit betrifft, sich mit Wissenschaft befassen, sondern die einfach ihre Professionen ausführen, die vielleicht eher handwerklich sind, wo sie eben nicht mit Wissenschaft in Kontakt kommen. Nach diesen sehr konkreten und ausdifferenzierten Definitionen, geht er über zu einer ganzen Geschichte der Menschheit und der menschlichen Gesellschaften, und zeigt inwiefern verschiedene Gesellschaftsformen auf bestimmte und besondere Art von Vorurteilen betroffen sind … erst dann kommt er eigentlich zur Beantwortung der Frage, um die es geht, in der Conclusion, und sagt: Die Wahrheit ist besser als Vorurteile und Fehler und es muss deswegen immer das Ziel sein, die Menschen soweit es geht, so stark es geht aus diesen Vorurteilen herauszuführen.

Friederike Kroitzsch: Die Gewinnerschrift, die sich für eine Täuschung des Volkes ausspricht, legt weniger Wert auf Transparenz, als darauf, bittere Wahrheiten zu versüßen. Das lässt zumindest das Motto des Textes vermuten.

Gesa Ufer: Dem kranken Kinde pflegt man Arznei zu reichen // Und des Gefäßes Rand mit Honig zu bestreichen // Getäuscht trinkt es nun den bittern Heilungssaft // Und Leben ist der Preis, den Irrtum ihm verschafft.

Matthias Kelle: Herr de Castillon, Sohn, Professor der Mathematik an der Académie royale des Gentilhommes.

Isabelle Fellner: Er war später auch ordentliches Mitglied an der Berliner Akademie. Im Kontext der Volksbetrugsfrage ist es außerdem eventuell brisant, dass sein Vater zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Frage dann auch gewonnen hat, selbst Mitglied der Berliner Akademie war.

Friederike Kroitzsch: Es lässt sich über diese Verwandtschaft hinaus nichts nachweisen, weshalb wir es bei dem Raunen belassen und uns den Aussagen von Castillon zuwenden. Hatte Becker den Begriff Vorurteil eingefügt, so formuliert auch Castillon die Preisfrage leicht um. Seiner Meinung nach, kann die Akademie nur gemeint haben: Ist es dem Volk manchmal nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtümer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt? Er fügt also das Wort „manchmal“ ein.

Isabelle Fellner: Und er definiert dann auch das Volk, etwas negativer als Becker, als den Teil der Bevölkerung, der von der Natur einen schwachen und bornierten Geist erhalten hat, und geht dann auch immer wieder in seinem Text darauf ein und sagt teilweise: Das Volk ist wie ein Kind, das eben an der Hand geführt werden muss. Und: Das Volk ist eben der Teil der Bevölkerung, der gelenkt werden muss, anstatt selber zu lenken. Und wenn er das dann auf diese Art formuliert hat, ist ja auch schon ganz klar, die Antwort, die er gibt, kann eigentlich nur in eine Richtung gehen. Wenn das Volk als etwas definiert ist, was nicht selber führen kann, sondern was geführt werden muss, dann ist die Antwort natürlich, ja klar, was bestimmte Punkte betrifft, muss man das Volk, soll man das Volk täuschen.

Friederike Kroitzsch: Das mag nun so klingen, als wäre Castillon dafür, die Menschheit in der Dunkelheit zu lassen, sie ständig in allen Lebensbereichen zu belügen. Doch vergessen wir nicht das von ihm ergänzte Wörtchen „manchmal“.

Isabelle Fellner: Vielleicht noch wichtig ist, dass er zum Schluss dann eben auch nochmal ganz klar sagt, das Volk soll nur betrogen werden, wenn es unbedingt sein muss. Also prinzipiell schon so wenig wie möglich aber in gewissen Punkten ist es einfach nötig und in gewissen Punkten ist es wichtig.

Matthias Dittmer: Eine gute Regirung also, die das wahre Glükk des Volkes zum Zwekk hat, wird es so wenig als möglich, oder nur in so fern es zu seinem grössern Besten nohtwendig ist, zu Irtum verleiten, oder darin erhalten: und sie wird standhaft arbeiten, seine Vorurteile zu zerstören, und es unvermerkt aufzuklären, ohne es je zu übereilen.

Isabelle Fellner: Er sieht es dann eher so, dass die nackte Wahrheit schlecht sein kann und dass sie teilweise auch zu einem Schock führen kann beim Volk und dass er deswegen eher der Ansicht ist, man muss das Volk langsam an die Wahrheit heranführen. Er formuliert das so, dass man vielleicht das Volk von einem Erreur, von einem Irrtum in den nächsten führen soll, bis man sich dann schließlich immer mehr der Wahrheit annähert und irgendwann kann man dann bei der Wahrheit herauskommen, aber das ist ein langsamer und approximativer Prozess.

Friederike Kroitzsch: Festzuhalten ist, dass die beiden prämierten Schriften in ihrer Argumentation durchaus typisch sind für den überwiegenden Teil der Pro- und Kontra-Texte.

Isabelle Fellner: Also Ich kann hier das wiedergeben, was Beguelin, ein Mitglied der Akademie, auch schon selbst gut zusammengefasst hat: Es gibt diejenigen Verfasser, die von abstrakten Begriffen ausgehen, Freiheit, Vollkommenheit, etc. und die haben die Frage nach dem Volksbetrug verneint. Und dann gibt es die anderen, die vom Volk im Jetztzustand, wie Castillon, ausgegangen sind, das Volk, wie es jetzt ist, in seiner jetzigen Unvollkommenheit, und die dann einfach zum Schluss kommen, dass es unmöglich ist, dieses ganz konkrete Volk so schlagartig aus seiner Unvollkommenheit herauszubringen. Und die, die eben das so gesehen haben, die konnten die Frage dann eigentlich nur bejahen.

Friederike Kroitzsch: Wenn wir die beiden Siegerschriften vergleichen, so fällt ein deutlicher Unterschied im Umfang auf.

Martin Urmann: Die Länge der eingereichten Schriften bemisst sich nach einer mündlichen Maßeinheit, das Schriftstück muss binnen 30 Minuten laut zu verlesen sein. Darin sieht man, wie stark diese Gattung bis weit ins 18. Jahrhundert hinein von der Oralität, also vom mündlichen Vortrag oder zumindest der Vorstellung eines mündlichen Vortrags geprägt ist, und dies obwohl das gesamte Verfahren, wie wir ja gesehen haben, von der Auslobung der Preisschriften an, ein wirklich schriftliches ist.

Isabelle Fellner: Also bei Becker kann man ganz klar sagen, dass es auf alle Fälle schwierig wird mit 30 Minuten, da, wie wir ja schon gesehen haben, der Text von Becker ist wirklich sehr sehr ausufernd und Castillon ist kürzer und bei Castillon könnte man wahrscheinlich auch sagen, dass er sich noch stärker als Becker diesen rhetorischen Anreden und Apostrophen bedient, während der Text von Becker schon viel stärker ein geschriebener Text ist.

Friederike Kroitzsch: Der von Becker eingereichte Text entspricht also strenggenommen nicht mehr einer verschriftlichten Rede. Es handelt sich um einen Text, der recht eindeutig zur Lektüre bestimmt ist. Und dennoch lebt auch in Beckers geschriebenem Text die Rhetorik – die Tradition des mündlichen Vortrags – fort. Was signalisiert dies in Bezug auf den in der Forschung bisher so stark gemachten Abgrenzungsgestus der Akademien gegenüber den Universitäten? In unserem Versuch, das Protokoll vom 1. Juni 1780 zum Leben zu erwecken und die Vorgänge, die dort protokolliert werden, zu verstehen, haben wir die Akademie sehr stark ihrem Selbstverständnis, man könnte sagen, ihrer Selbststilisierung folgend beschrieben. In dieser Selbstbeschreibung setzen sich die Akademien von den Universitäten ab: An Universitäten würde das Wissen lediglich tradiert und weitergegeben, aber kein neues Wissen geschaffen. Obgleich sich die Akademien ebenfalls einer Tradition verpflichtet sehen, die über die Renaissance bis in die Antike zurück reicht, bezeichneten sie sich doch als etwas markant Neues. Die Akademien betrachten sich – im Gegensatz zu den Universitäten – als unabhängige Institutionen, die neues Wissen produzieren und darüber hinaus mit Formaten wie öffentlich ausgeschriebenen Preisfragen eine breitere Bevölkerung in die Genese neuen Wissens einbeziehen. Diese Selbstbeschreibung gilt es nun abschließend einer genauen Prüfung zu unterziehen. Auf welche verborgenen Verbindungen und Traditionslinien stoßen wir bei einer rhetorikgeschichtlichen Analyse der Akademien und ihrer Preisfragen? Wie verhält sich die Argumentation der Preisschriften denn zu den Argumentationspraktiken an den Universitäten, von denen sich die Akademien in ihrem Selbstbild so nachdrücklich abgrenzen. Auch dazu haben wir Frau Professorin Anita Traninger befragt:

Anita Traninger: Dieses Selbstbild stimmt insofern, als die Akademien diese Abgrenzung natürlich explizit vorgenommen haben und sich Programmatiken gegeben haben, die sie gegen die Universität abgegrenzt und konturiert haben. Zugleich laufen unterschwellig langfristige Traditionslinien weiter, an denen die Universitäten genauso partizipieren wie die Akademien. Das sind vielfach keine Konzepte oder Praktiken, die die Universitäten selbst zur Gänze erfunden haben, sondern das ist Vieles, was aus der Antike herkommt, das man allerdings appropriiert, zugerichtet auf eine bestimmte Weise praktiziert hat. Die Akademien partizipieren, genauso wie die Universitäten, an einem Erbe der Antike, nämlich der Rhetorik und der Dialektik, und richten sich das auf ihre eigene Weise zu. In den Preisfragen ist es so, dass Fragen gestellt werden, die typischer Weise pro oder contra beantwortet werden können. Also wir sehen das durchweg, auch wenn die Frage nicht explizit als „entweder-oder“ formuliert ist, dass die Antworten doch dahin kommen, entweder positiv oder negativ auf die gestellte Frage zu antworten.

Friederike Kroitzsch: An den Universitäten hingegen findet die antike rhetorische Tradition eine spezifische Ausprägung in dem Verfahren für die Verhandlung von Zweifelsfragen. Fragen, die gleichermaßen pro und contra beantwortet werden können.

Anita Traninger: Die Universität hat sich dafür eine ganz bestimmte Rahmung ausgedacht. Das ist eine Erfindung der mittelalterlichen Universität. Nämlich die Disputatio als eine dreistellige Konstellation, mit einem vorsitzführenden Magister, einem Respondenten, der eine These zu verteidigen hat, und einem Opponenten, der diese These anzugreifen hat. Die Position des Respondenten impliziert dabei, dass auf eine Frage, die auf zwei Arten beantwortbar ist, eine Antwort geben wird und diese Antwort verteidigt wird. Das ist die Konstruktion der mittelalterlichen und dann auch frühneuzeitlichen Disputation. Es wird eine Seite ausgewählt und gegen alle Angriffe verteidigt. Das ist gleichzeitig das Denkmuster, das auch noch die frühen Preisfragen prägt, es wird eine Seite ausgewählt, und es werden mögliche Anwürfe, mögliche Angriffe auszuräumen versucht in der Argumentation.

Friederike Kroitzsch: Vielen Dank, Frau Professorin Traninger. Entgegen dem Selbstverständnis der Akademien lässt sich also eine bis in die Antike reichende Kontinuität in der rhetorischen und dialektischen Argumentationsweise feststellen, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei den Preisfragen um ein schriftliches Verfahren handelt. Doch wie stand es um die Unabhängigkeit der Akademien? Am Beispiel der Berliner Volksbetrugsfrage haben wir gesehen, wie sehr ein Monarch in die Belange der Akademie zu intervenieren vermochte. Gab es eine Zensur der Akademie?

Martin Urmann: Generell gilt: Wenn man nicht kritisch an den heißen Themen, also Dieu, Roi, moeurs, wie es in einer der Satzungen der Académie française heißt, Gott, König und die Sitten, wenn man daran nicht kritisch oder in irgendeiner Form anstößig rüttelt, dann ist man beim Concours académique relativ frei. Das haben die meisten der Teilnehmer tatsächlich auch verinnerlicht, also in dem Sinne, dass sie sich sozusagen Exzesse in diese Richtung verboten haben, weil sie wussten, dass das geahndet werden würde, und dadurch hatten sie an anderen Stellen eben größere Freiheit.

Friederike Kroitzsch: Gegenüber der Berliner Akademie übt, wie sich gezeigt hat, Friedrich II. einen größeren Einfluss aus, auch indem letztendlich er darüber entscheidet, wer ordentliches Mitglied der Akademie wird. Die Akademiker dürfen eine Vorauswahl treffen, aber sie können letzten Endes nicht selbst bestimmen, wen sie in ihren Kreis aufnehmen. Von der sonst herrschenden Pressezensur ist die Berliner Akademie allerdings ausdrücklich ausgenommen.

Isabelle Fellner: Bei der Volksbetrugsfrage war das allerdings anders. Da wurde die Zensurfreiheit, die die Akademie genoss, in gewisser Weise außer Kraft gesetzt. Bei der Beantwortung der Frage, was die Antworten betrifft, hat Friedrich nämlich ganz klar gesagt, dass keine Antworten gekürt werden sollten, die irgendeine Regierung, also sowohl seine eigene, als auch ausländische Regierungen kritisiert.

Friederike Kroitzsch: Und wie unabhängig war die Berliner Akademie im Hinblick auf ihre Finanzen?

Isabelle Fellner: Bei der Berliner Akademie ist es so, dass sie im Gegensatz zu anderen Akademien bis ins 19. Jahrhundert nicht direkt vom Staat finanziert worden ist, sondern, dass sie mithilfe von Einnahmen aus dem Kalendermonopol, das sie hatte, überlebt hat. Also: Niemand durfte mehr Kalender herstellen, außer die Akademie. Und diese Kalender sind dann verkauft worden und daraus hat sie sich finanziert.

Friederike Kroitzsch: Unabhängig vom Monarchen war die Akademie dadurch nicht.

Isabelle Fellner: Weil entweder man sagt, ich geb euch kein Geld mehr, oder man sagt, ich nehm euch das Kalendermonopol weg. Und was rauskommt ist dasselbe.

Friederike Kroitzsch: Wenden wir uns resümierend dem Punkt der tatsächlichen Reichweite des Preisfragenverfahrens bei den rhetorischen, poetischen und philosophischen Preisfragen zu. Wie breit war die Öffentlichkeit, die damals mit dem Verfahren angesprochen und aktiviert wurde, wirklich?

Martin Urmann: Nach neueren Schätzungen nehmen von 1670, als die Preisfragen ausgeschrieben werden, bis 1794, als sie dann unter der Französischen Revolution abgeschafft werden, nehmen daran zwischen 12 und 15.000 Personen teil. Im Vergleich dazu die Zahl von Akademikern in Frankreich im gesamten 18. Jahrhundert beläuft sich auf ca. 6.000. Ne, also man sieht ganz klar, die Preisfragen sind gewollter Weise ein Sprachrohr der Akademien nach außen, zu einer breiteren Öffentlichkeit, und als solche haben sie großen Erfolg und werden sie auch wahrgenommen.

Isabelle Fellner: Die Preisfragen sind auf alle Fälle etwas, die eine bestimmte mögliche Öffentlichkeit eröffnen, die es davor in der akademischen Landschaft nicht so gegeben hat. Die Akademien sind ja oft sehr verschlossene Institutionen, in die man schwer Eintritt gewinnen kann und die viel unter sich selbst ausmachen. Die Preisfragen mit ihrer anonymen Einsendungspraktik und ihrer, der Tatsache, dass die Fragen öffentlich bekannt gegeben werden und sich eigentliche jeder beteiligen kann, der möchte, sind da schon was ganz Anderes.

Martin Urmann: Ja, man darf sozusagen sich nicht mit hinwegreißen lassen von der Offenheit dieses Verfahrens und muss natürlich auch kritisch nach den sehr wohl auch in dieser Gattung waltenden Ausschlussmechanismen fragen.

Isabelle Fellner: Die, die sich an den Preisfragen beteiligen, sind immer noch Mitglieder einer gebildeten Elite, die eben überhaupt dazu in der Lage sind, sich an diesem wissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Das ist aber nicht so eine große Öffentlichkeit wie der Begriff für uns heute besetzt ist.

Martin Urmann: Es gab eine Fülle von Filtermechanismen. Da wäre die ganze Dimension des Stils, was die Akademiker unter Klarheit des Ausdrucks, Stringenz der Argumentation gefasst haben, bis hin zu solchen scheinbar sekundären Qualitäten wie die Sauberkeit und Lesbarkeit der Handschrift, ne.

Isabelle Fellner: Man hat sofort erkannt, ob eine Handschrift ungelenk ist, ob die Person oft geschrieben hat oder nicht, und das hat dann natürlich bestimmte Assoziationen wachgerufen.

Martin Urmann: Und natürlich nicht zuletzt die Voraussetzung, die man natürlich überhaupt mitbringen muss, dass man an so einem Verfahren sozusagen intellektuell in der Lage ist teilzunehmen.

Isabelle Fellner: Vor Allem in den rhetorischen und philosophischen Preisfragen war es einfach wichtig, dass die Teilnehmer eine breite Kenntnis von Literatur- und Quellenlage hatten. Das sieht man zum Beispiel auch in den Beiträgen von Becker und Castillon, dass sie immer wieder auf bestimmte Texte oder auf bestimmte Autoren verweisen, womit sie auch demonstrieren wie breit sie gebildet sind.

Martin Urmann: Es ist ja auch kein Wunder, dass die Mehrzahl der Teilnehmer irgendwie eine Ausbildung an der Universität eben in den freien Künsten, also Rhetorik, Grammatik, Logik, durchlaufen haben, viele waren eben grundsätzlich vom Fach.

Isabelle Fellner: Und was schon allein das allergrößte Ausschlusskriterium ist, ist, dass die Menschen, die an den Preisfragen teilnehmen wollen, überhaupt einfach nur über die Zeit verfügen müssen, sich mit so einem Problem auseinander zu setzen. Denn, wenn man den ganzen Tag auf dem Feld arbeitet, um nicht zu verhungern, hat man sicher keine Muße, sich mit irgendwelchen theoretisch-philosophischen Fragestellungen auseinander zu setzen.

Friederike Kroitzsch: Das ist ja gleich eine ganze Reihe von Ausnahmen, die die Offenheit des Verfahrens relativierten und die Teilnahme an den offenen Ausschreibungen erschwerten.

Martin Urmann: Aber, der Concours hat natürlich auch da Schlupflöcher.

Friederike Kroitzsch: Es lässt sich nicht verlässlich rekonstruieren, ob es den Akademien ein konkretes Anliegen war, mit den Preisfragen gezielt Menschen jenseits der gebildeten Eliten zu erreichen, die Dokumentationen zeigen jedoch, dass dies durchaus der Fall war. Frauen zum Beispiel gehörten dem damaligen Verständnis nach eigentlich nicht zu den Gelehrtenkreisen – von Universitäten und Akademien waren sie ausgeschlossen. Doch durch das anonymisierte Auswahlverfahren konnten sie an Preisfragen nicht nur teilnehmen, sondern diese auch hin und wieder gewinnen: In Frankreich sogar 24 Mal.

Gesa Ufer: Der Abschnitt zu den Preisfragen ist mit dem Verlesen der neuen Preisfrage der Klasse der Mathematik zu den Flugkurven von Kanonenkugeln abgeschlossen. Und jetzt steht zum Ende dieser öffentlichen Sitzung noch das ordentliche Akademiemitglied Achard auf und wird einen Bericht verlesen.

Friederike Kroitzsch: Während am 1. Juni 1780 die Akademiesitzung mit einem Vortrag schließt …

Jan Fusek: Über die Entdeckung einer neuen Methode durch die es möglich ist, mit einer sehr kleinen Menge an Kohle oder anderer brennbarer Materialien einen viel größeren Grad an Hitze zu erzeugen, als es bislang möglich war. Mit der Beschreibung einer Maschine, die dazu dient, die Luft in Wohnräumen zu dephlogistisieren, wodurch sie viel besser für die Atmung wird.

Friederike Kroitzsch: … schließen wir den Archivband mit den Protokollen der Berliner Akademie und kehren in die Gegenwart zurück. In das Büro des designierten Präsidenten der BBAW, Herrn Professor Christoph Markschies, mit ihm durften wir ein kurzes Gespräch führen über die heutige Rolle der Akademie.

Christoph Markschies: Eine Akademie der Wissenschaften im 21. Jahrhundert darf man sich vorstellen wie ein Gebäude, in dem es drei miteinander kommunizierende Teilbereiche gibt. Das eine ist: Es ist eine geisteswissenschaftliche Großforschungseinrichtung, die Berlin-Brandenburgische Akademie ist die größte geisteswissenschaftliche Großforschungseinrichtung, die Projekte betreibt, die langen Atem brauchen. Griechische Inschriften werden immer gefunden, da muss es Leute geben, die die auswerten und so zur Verfügung stellen, dass man weiß, was da Interessantes, Neues gefunden ist, und wie das unser Bild von der Geschichte der Antike verändert. Dann ist eine Akademie eine Einrichtung, in der Gesellschaft und Politik beraten werden. Die Berlin-Brandenburgische Akademie hat mal Gesundheitssysteme in Europa verglichen und eine große, dicke Analyse dazu geschrieben und zwanzig Seiten für die Bundestagsabgeordneten, die das zusammengefasst hat, nicht im Sinne von: „Ihr müsst so reformieren“, sondern: „Das sind die drei Optionen. Für die spricht das, für die spricht das.“ Also, zweite Herzkammer oder Säule Politikberatung. Und die dritte ist das, was man früher Gelehrtengesellschaft genannt hätte, eine Gruppe von herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die neugierig aufeinander sind und sich Zeit nehmen, Fragen in Ruhe miteinander zu besprechen. Und in der Kombination der drei, also die Wissenschaftler könnten sich auch im Lokal treffen und die Großforschung könnte auch auf der grünen Wiese stattfinden, und die Politikberatung könnte auch im Flugzeug nach Brüssel stattfinden, aber die Kombination dieser drei macht wie man heute sagen würde den unique selling point, das, was es nur an einer Akademie gibt, aus, und die Berlin-Brandenburgische Akademie als Hauptstadtakademie macht das in besonders feiner Weise, aber natürlich gemeinsam mit vielen anderen.

Friederike Kroitzsch: Und die Preisfragen?

Christoph Markschies: Die alten Akademien in der Bundesrepublik Deutschland, also die viele Jahrhunderte alten Akademien stellen lustigerweise keine Preisfragen mehr, aber die Junge Akademie. Die Berlin-Brandenburgische Akademie hat gemeinsam mit der Leopoldina eine Nachwuchsakademie gegründet, und die hat gleich als erstes wieder angefangen Preisfragen zu stellen. Zum Beispiel die Frage: Was im Tier uns anblickt. Und dafür unglaublich viele Antworten bekommen. Also ganz scheinbar alte und von den Älteren für überlebt gehaltene Ideen kommen urplötzlich durch die Jugend, also den akademischen Nachwuchs, wieder aufs Tapet. Man könnte sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: In der Wissenschaft insgesamt und auch in den Akademien gibt es was der alten Preisfrage vergleichbares. Früher hat Wissenschaft, und da waren die Akademien ganz vorne dran, etwas produziert und gehofft, die Öffentlichkeit nimmt das ab, hat einen Band Marx, Engels, Nietzsche, Griechische Inschriften in Schweinsleder gebunden ausgeliefert und manche Leute haben drin gelesen. Heute versuchen wir ja die Fragen, zu denen wir antworten, mit der Öffentlichkeit gemeinsam zu finden. Englisch, wie Wissenschaftsenglisch im Augenblick immer ist, open science, also die Grundvorstellung, dass die Agenda der Wissenschaft nicht von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern allein gesetzt wird, wobei man immer darauf achten muss, das ist ja in der Preisfrage auch so, die Souveränität und Freiheit der Wissenschaft gewahrt bleibt. Nicht alle Wissenschaft ist verzweckt und macht nur das, was irgendwer von ihr haben will, sie hat auch einen kritischen Impuls. Aber, wir entwickeln Forschungsfragen gemeinsam mit der Öffentlichkeit, für die wir forschen. Und das ist ein bisschen … transferiert die Idee der Preisfrage in die Gegenwart.

Friederike Kroitzsch: Wir danken Professor Christoph Markschies für das Gespräch. Ebenso bedanken wir uns bei Isabelle Fellner und bei Martin Urmann, die diese Folge mitgestaltet haben. Das war die Episode „Die Volksbetrugsfrage“ des Podcasts Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Danke fürs Zuhören, bis zum nächsten Mal. Und – bleiben Sie in Bewegung.

01:01:31: (Jingle/Abspann)

Friederike Kroitzsch: Sie hörten: „Die Berliner Volksbetrugsfrage“ aus der Reihe Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Eine Produktion des Sonderforschungsbereiches „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin – federführend: Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Isabelle Fellner und Martin Urmann. Außerdem mit Anita Traninger und Christoph Markschies. Stimmen: Friederike Kroitzsch, Matthias Dittmer, Gesa Ufer sowie Matthias Kelle und Jan Fusek. Diese Folge ist in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.