5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören
Friederike Kroitzsch: Ein kunstvoll verziertes Trinkhorn aus einer Greifenklaue führt uns heute aus der Kurfürstlichen Wunderkammer in Berlin auf eine lebensbedrohliche Insel am Rande der Welt mitten hinein in das wundersame Wissen der mittelalterlichen Literatur. Was erlebt Herzog Ernst in fernen Ländern? Wie beeinflussen sich die Erzählungen von wundersamen Objekten und die Sammlung ebensolcher Gegenstände in den Kunstkammern der Fürsten? Und was fällt da ins Greifennest? Mein Name ist Sophie Ruch und Sie hören:
Friederike Kroitzsch: (Jingle) Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören
Friederike Kroitzsch: „Die Greifenklaue“
Friederike Kroitzsch: Im Kunstgewerbemuseum Berlin befindet sich ein reich verziertes Trinkhorn, das uns schon aus der Ferne ins Auge springt. Und nicht nur uns, sondern auch einem Literaturwissenschaftler. Doch dazu später. Zunächst treffen wir den stellvertretenden Direktor des Kunstgewerbemuseums Lothar Lambacher vor der Vitrine …
Lothar Lambacher: … Gehen Sie mal bitte da raus … Ja.
Friederike Kroitzsch: Er kümmert sich als Hauptkustos der Mittelalterabteilung um diese Sammlung und betreut sie wissenschaftlich.
Lothar Lambacher: Also, wir stehen jetzt hier vor dem Trinkhorn aus der Berliner Kunstkammer, das 1875 in das Berliner Kunstgewerbemuseum gelangt ist, das einzige seiner Art in dieser Berliner Sammlung. Diese Art von Trinkhörnern wird als Greifenklaue bezeichnet. Das natürliche Trinkgefäß des Horns, besitzt eine metallene Fassung. In diesem Fall also eine Montage aus vergoldeten Kupferteilen. Damit das Horn einen eigenen Stand bekommt, hat man ihm zwei Manschetten umgelegt, und an diesen Manschetten sind hinten ein und vorne zwei klauenförmige Füße anmontiert. Der Rand ist zum Trinken mit einer ebenfalls metallenen, also auch kupfervergoldeten Lippe ausgestattet. Um diese Lippe läuft eine Umschrift, und sie nennt die Namen der Drei Könige, der Heiligen Drei Könige – Melchior, Balthasar und Caspar. Am anderen, am spitzen Ende des Horns befindet sich eine Eichel, die aufgerichtet ist über kunstvoll arrangierten Eichenblättern. Die Mündung, die beiden Manschetten und die Spitze des Horns sind verbunden mit verschiedenen Spangen, die das Ganze zusammenhalten, die die Montage zusammenhalten und dem Ganzen eine ganz charakteristische Anmutung geben.
Friederike Kroitzsch: Greifenklaue? Also die Klaue eines Greifen, jenes riesigen mythischen Wesens – halb Vogel, halb Löwe. Er hat den Kopf, die Flügel und vorn die Krallen eines Adlers und den Körper eines Löwen mit dessen kräftigen Hinterbeinen. Darstellungen dieses Mischwesens reichen Jahrtausende zurück. Da es sich um ein mächtiges, für den Menschen unbesiegbares Wesen handelt, war es im Mittelalter ein beliebtes Wappentier und fand selbstverständlich auch Eingang in die Literatur.
Matthias Dittmer: Und so fuhr der Herzog Ernst mit seinen Gefährten über das Meer, bis sie eines Tages von einer wundersamen Insel wie von unsichtbarer Kraft angezogen wurden und dort strandeten. Die Insel war der Magnetberg, der, was er einmal zu sich holt, nicht mehr loslässt, weshalb überall unzählige Reichtümer herumlagen, von Vorgängern, die dasselbe Schicksal ereilt hatte. Ansonsten war der Berg kahl, keine Nahrung weit und breit. Und so verhungerte einer nach dem andern aus dem Gefolge, bis nur noch der Herzog, sechs seiner Gefährten und ein halbes Brot am Leben waren. Die Körper der Verhungerten aber verschwanden auf wundersame Weise …
Falk Quenstedt: Swelhen ie der tôt nam // den truogen die helde lobesam // ûz dem schiffe schiere.
Katharina Kwaschik: Wen der Tod ereilte // den trugen die tüchtigen Helden // sehr bald aus dem Schiffe.
Falk Quenstedt: in leiten die degen ziere // obene ûf des schiffes bort.
Katharina Kwaschik: Die guten Ritter legten ihn // Oben auf das Deck des Schiffes.
Falk Quenstedt: daz habt ir dicke gehôrt // sagen vür ungelogen.
Katharina Kwaschik: Solches ist euch ja schon oft // Wahr berichtet worden. // Die Greifen kamen dorthin geflogen // Und schleppten ihn zu ihrem Neste.
Falk Quenstedt: die grîfen kâmen dar geflogen // und fuorten sie hin ze irm neste.
Friederike Kroitzsch: Was haben wir da eben gehört?
Falk Quenstedt: Das war ein Auszug aus dem „Herzog Ernst“, einem Erzähltext, der wahrscheinlich um 1200, kurz vor 1200 entstand und in vielen verschiedenen Fassungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit rezipiert und weitergegeben wurde. Er erzählt von den Abenteuern eines Herzogs, eines Reichsfürsten, Herzog Ernst, der beim Kaiser in Ungnade gefallenen ist und aus dem Reich flüchten muss, vor Syrien in einen Seesturm gerät und dann an den Rändern der bekannten Welt Abenteuer erlebt.
Friederike Kroitzsch: Diese Erklärung liefert uns …
Falk Quenstedt: … Falk Quenstedt. Ich bin Literaturwissenschaftler im Fachgebiet der Älteren deutschen Literatur, d. h. der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Und ich bin Wissenschaftlicher Mitarbeiter in einem Projekt, das sich mit dem Wunderbaren in mittelalterlicher Literatur befasst, und dieses Wunderbare als besondere Form des Wissens begreift.
Friederike Kroitzsch: Das Wunderbare als Wissensform in der Literatur?
Falk Quenstedt: Das Wunderbare meint alles, worüber das Publikum einer Erzählung oder auch Figuren innerhalb dieser Erzählung sich verwundern, worüber sie staunen. Das kann zum Beispiel eine Insel sein, die magnetisch ist und kein Schiff mehr wegfahren lässt, oder auch ein Fabeltier, ein Wesen wie der Greif – halb Vogel, halb Löwe –, das ganze Pferde durch die Luft trägt.
Friederike Kroitzsch: Der Greif und ein Magnetberg, das sind ja Elemente, die auch noch in heutigen Fantasy-Erzählungen vorkommen. Sie sind unterhaltsam und lassen uns erschaudern. Aber was haben sie mit Wissen zu tun?
Falk Quenstedt: Also, in der Verwunderung steckt bereits Wissen, denn Verwunderung und Staunen ist immer an besonderes und je spezifisches Vorwissen gebunden, was in dem Moment nicht ausreicht, um das, was hier als das Wunderbare, als Phänomen, auftaucht, irgendwie zu erklären. Und damit ist ein Erkenntnisprozess angestoßen. Das ist das Eine. Und auf der anderen Seite bindet sich das Wunderbare in diesen Erzähltexten häufig an Elemente aus Wissenstraditionen, wie sie eben auch im Gelehrtenwissen über Jahrhunderte tradiert sind, wie das zum Beispiel beim Greifen der Fall ist …
Friederike Kroitzsch: Warum treffen wir nun Falk Quenstedt, den Literaturwissenschaftler, nicht nur auf der Magnetinsel am Rande der Welt, sondern auch vor der Vitrine der Greifenklaue im Kunstgewerbemuseum?
Falk Quenstedt: Ja, Literatur existiert ja nicht in einem eigenen abgeschlossenen Raum vom Rest der Gesellschaft. Vor der Vitrine stehe ich, weil in fürstlichen und kirchlichen Sammlungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit – und vor allem dann in sogenannten Wunderkammern – Objekte des Wunderbaren besonders wichtig waren. Und auch die Erzähltexte handeln ja von solchen Dingen. Also hier sieht man einfach eine enge Verbindung zwischen dieser Sammelpraxis und der Literatur, die mich dazu führt, mich mit dieser Sammelpraxis auch genauer zu beschäftigen.
Friederike Kroitzsch: Die seit dem 15. Jahrhundert an den Fürstenhöfen entstehenden Sammlungen besonderer Objekte werden als Wunderkammern oder Kunstkammern bezeichnet. Die Fürsten wollten förmlich die gesamte Welt und ihre Wunder in nur einer Kammer zusammenzuführen. Sie sammelten zum einen naturalia – das sind seltene Naturobjekte wie Korallen oder Muscheln; zum anderen artificialia, nämlich besondere kunsthandwerkliche Objekte, Schmuck, Miniaturschnitzereien; und – allgemeiner – sogenannte mirabilia, ganz wörtlich „wunderbare“ Objekte, die häufig großes Staunen hervorriefen.
Falk Quenstedt: Das Wunderbare, gerade wenn man es als Wissen begreift, kann also nicht isoliert nur innerhalb der literarischen oder der Erzähltexte untersucht werden. Die Erzähltexte entstehen in einem größeren kulturellen und sozialen Zusammenhang. Für die mittelalterliche Literatur ist hier besonders die Kultur des Adels, die Kultur der Höfe, wichtig. Der Adel kultiviert an den Höfen einen gewissen Luxus, Pracht und Prunk – das kennt man ja – zu repräsentativen Zwecken. Dabei spielt aber auch ein Interesse an ungewöhnlichen Dingen, Begebenheiten, Naturphänomenen, an sogenannten mirabilia eine wichtige Rolle. Und die Greifenklaue wäre genauso ein solches mirabile, ein solches Objekt, das hier hineinpassen würde.
Friederike Kroitzsch: Zurück zum Abenteuerroman „Herzog Ernst“. Wenn wir an mittelalterliche literarische Erzählungen denken, so denken wir an das Nibelungenlied, oder vielleicht an die höfischen Artusromane, an Parzival und Iwein. Im Vergleich dazu scheint „Herzog Ernst“ in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei war der Stoff seinerzeit sehr populär. Die sogenannte Fassung B, aus der wir immer wieder Ausschnitte hören, wurde um 1200 in Reimpaarversen verfasst und ist die erste vollständig überlieferte Fassung. Der Stoff wurde über 700 Jahre lang, bis ins 18. Jahrhundert hinein, in ständig neuen Bearbeitungen, Abschriften, später auch als Druckausgaben verbreitet. Dabei veränderte sich häufig auch die Erzählung von Fassung zu Fassung: Einige Elemente wurden weggelassen, neue kamen hinzu, bestimmte Aspekte wurden vertieft, andere verknappt. Erst im 19. Jahrhundert bricht diese Erzählkette nahezu ab.
Falk Quenstedt: Dass der „Herzog Ernst“ ein offenbar bekannter, beliebter Text war, zeigt sich auch daran, dass er auf andere Texte eingewirkt hat, dass sich Spuren des „Herzog Ernst“ oder Teile, Episoden aus diesem Text in anderen Texten wiederfinden. Besonders deutlich ist das bei der sogenannten Sage von Heinrich dem Löwen der Fall, die eben auch von so einer … die auch so eine Abenteuergeschichte erzählt, die ganz ähnlich funktioniert wie der „Herzog Ernst“ und auch einzelne Episoden aus dem „Herzog Ernst“ aufweist.
Friederike Kroitzsch: Und wie geht es jetzt bei Herzog Ernst weiter? Den haben wir eben hungernd auf der Insel zurückgelassen. Doch bevor wir den Rettungsversuch starten, hören wir erst eine knappe Zusammenfassung, wie es zur dramatischen Strandung am Magnetberg kam.
Matthias Dittmer: Es war einmal in Bayern der Herzog Ernst. Als er noch ein kleiner Junge war, starb sein Vater, und er musste sehr jung dessen Erbe antreten. Seine Mutter Adelheid, die in zweiter Ehe den Kaiser heiratete, stand ihm zur Seite und ließ ihn Italienisch und Latein lernen, schickte ihn ins Oströmische Reich. Sie war überhaupt eine faszinierende Frau, die stets zauberhaft geschminkt …
Friederike Kroitzsch: Eine knappe Zusammenfassung bitte!
Matthias Dittmer: Gut. Wie gewünscht: Der Herzog Ernst diente dem Kaiser Otto, der sein Stiefvater war. Er herrschte über die bayerischen Lande und alles war gut, bis ein Neider ihn beim Kaiser verleumdete, und behauptete, er würde nach der Kaiserkrone streben. Fake News. Aber der Kaiser glaubte den Vorwürfen, woraufhin der Herzog Ernst den Verleumder erschlug. In den daraus resultierenden Kriegshandlungen wehrte er mit seinen Rittern tapfer die kaiserlichen Heere ab, um sich dann mit einer kleinen Schar ins Gelobte Land abzusetzen. Auf ihrem Kreuzzug verschlug ein Seesturm vor der Küste Syriens die Mannen in das unbekannte Land der Grippier, in eine prächtige, vollkommen leere Hafenstadt. Der Herzog bediente sich dort in den Speisekammern, erkundete aber auch die Stadt und ihre architektonischen Wunder – wie in einem Freilichtmuseum. Davon gäbe es eine Menge zu berichten, aber das müssen Sie dann wohl selber nachlesen. Zurück zum Plot: Da kehrten die Grippier von einem Kriegszug in ihre Stadt zurück. Sie waren menschenähnliche Wesen mit Kranichköpfen und langen, spitzen Schnäbeln und hatten eine indische Prinzessin entführt. Der Herzog Ernst wollte sie befreien, es kam zu einem schrecklichen Gemetzel, unzählige Kranichköpfige geköpft, ihr König erschlagen, die Prinzessin tot – erschnabelt –, acht Gefährten des Herzogs gefallen, der Rest zurück aufs Schiff, stachen in See bis sie am Magnetberg strandeten … Naja … also … schneller ging es nun wirklich nicht.
Friederike Kroitzsch: Und da sind wir also bei den Helden auf der kargen Insel, über der hin und wieder die Greifen kreisen.
Matthias Dittmer: Die verzweifelten Ritter aßen das letzte halbe Brot, beteten zu Gott und lieferten sich seinem Willen aus. Da kam Herzog Ernsts treuem Gefährten Graf Wetzel die rettende Idee, wie sie wieder aufs Festland gelangen könnten:
Katharina Kwaschik: Wenn wir jemals gerettet werden sollen // dann kann dies gewiß nur so geschehen // dass wir, bevor wir alles aufgeben // suchen und umherspähen // bis wir in den Schiffen // eine Reihe von Häuten finden, // dann schlüpfen wir Heimatlosen // in unsere gute Rüstung. // Wenn man uns dann in die Häute vernäht hat, // so fuhr der Graf fort // so werden wir uns sogleich // vorn auf das Schiff legen // Dann werden uns dort die Greifen packen // Und uns hinwegtragen.
Matthias Dittmer: Wie ersonnen, so getan. Es wurde beschlossen, dass Herzog Ernst und Graf Wetzel als Erste diesen waghalsigen Fluchtversuch unternehmen sollten. Sie wurden in die Häute von Meerrindern eingenäht, in voller Rüstung und mit ihrem Schwert.
Katharina Kwaschik: Als nun die Sonne aufging // hob man die Fürsten auf // wie ihr vorher schon gehört habt, // und legte sie auf das Deck des Schiffes, // in starke Häute fest eingewickelt. // Nach ihrer Gewohnheit // Kamen die Greifen dann wieder // Über das weite Meer // zu den Schiffen geflogen // Als sie der Bündel gewahr wurden, // packte jeder den seinen // schnell in seine Krallen. // Sie ergriffen sie ziemlich kräftig // und brachten sie zu ihren Jungen, // wo sie sie vor ihnen allen // in das Nest fallen ließen. // Diese versuchten es auf manche Weise, // konnten aber nichts // von dieser Speise genießen, // auch nicht die Haut auftrennen. // So mussten sie sie liegen lassen. // Die Männer schnitten sich heraus und kletterten // von dem Felsen in den Wald hinab, // wo die Greifen den mutigen Männern // nichts antun konnten.
Friederike Kroitzsch: Nun spielen Greifen in dieser Passage des „Herzog Ernst“ eine große Rolle. Ihre Klauen aber werden nur kurz erwähnt. Lässt sich einschätzen, was das höfische Publikum des Mittelalters vor Augen hatte, wenn in der Geschichte von einem Greifen die Rede war? Und was wusste man über die Klauen der Greifen?
Falk Quenstedt: Ja, sie hatten wohl schon eine ziemlich klare Vorstellung davon, was ein Greif ist, wie so ein Greif aussieht, so dass sozusagen ein ‚Ottonormal-Adliger‘ sich unter einem Greifen etwas vorstellen konnte, ungefähr wusste, wie dieses Tier aussieht.
Friederike Kroitzsch: Zum einen gibt es bildliche Quellen wie Wandmalereien oder Skulpturen von Greifen an Kirchenportalen und an den Kapitellen von Säulen. Zum anderen spielt die mündliche Tradition eine Rolle, also Wissen, das im Gespräch übermittelt wird. Das ist für Historiker allerdings nicht unmittelbar zugänglich. Gespräche über erstaunliche Wesen oder Dinge finden sich zum Teil auch in Erzählungen und geben einen Eindruck davon, wie über solche mirabilia gesprochen wurde. Aber dabei handelt es sich ja letztendlich doch wieder um Texte. Weitere Indizien sind …
Falk Quenstedt: … in der Schriftlichkeit, in der volkssprachlichen Schriftlichkeit zu suchen, also erstmal in Texten wie dem „Herzog Ernst“, die ja ein großes Interesse an diesen naturkundlichen mirabilia bezeugen. Dann aber auch an volkssprachlichen Bearbeitungen – also Übersetzungen, aber es geht meistens über das Übersetzen hinaus, deshalb Bearbeitung – von lateinischen enzyklopädischen Texten wie dem „Lucidarius“, der Ende des 12. Jahrhunderts wahrscheinlich in Braunschweig, am Braunschweiger Hof entstanden ist, oder dem „Buch der Natur“ von Konrad von Megenberg, Mitte des 15. Jahrhunderts:
Katharina Kwaschik: ‚Grifis‘ bedeutet ‚Greif‘. Das ist ein Vogel, der ausgesprochen grimmig und boshaft ist und außerdem körperlich so kräftig, dass er einen Mann mit Schwert und Rüstung überwinden und töten kann. Er besitzt große, scharfe Klauen oder Krallen, mit denen er Menschen und andere Tiere zerreißt. Die Klauen sind so groß, dass die Menschen Becher und Trinkgefäße daraus machen.
Falk Quenstedt: Es ist spannend, dass Konrad überhaupt auf die Klauen eingeht, und hier besonders auch auf die Praxis verweist, dass aus ihnen Trinkgefäße hergestellt werden, solche Gefäße also, wie unsere Greifenklaue. Weiterhin wird an der Stelle deutlich: Die Greifen sind keine Wesen, die etwa eindeutig als fiktiv angesehen wurden. Vielmehr bezeugen ja die Greifenklauen an den Fürstenhöfen gerade, dass es Greifen auch wirklich gibt in der Ferne. Die von uns Modernen so selbstverständlich gezogene Grenze zwischen naturkundlichem Wissen und Literatur ist damit also nicht so eindeutig zu ziehen.
Friederike Kroitzsch: Da ist also der Faden, der uns zurück ins Museum führt. Und Konrad von Megenbergs „Buch der Natur“ ist mitnichten das einzige Buch, das die Fertigung von Trinkhörnern aus Greifenklauen als Wissen etabliert. In seinem mindestens ebenso populären Reisebericht schreibt Jean de Mandeville im 14. Jahrhundert über Greifen:
Katharina Kwaschik: Denn es ist sicher, dass ein Greif im Flug einen Mann samt Streitross und allem forttragen kann, oder auch zwei Ochsen, die so zusammen gebunden sind, als ob sie einen Wagen ziehen sollten. Denn es ist sicher, dass er vorn schreckliche Klauen hat, die so lang und groß sind wie das Horn eines Ochsen, denn man macht ansehnliche Trinkhörner aus seinen Klauen.
Falk Quenstedt: Auch Mandeville bezieht sich also auf die Greifenklauen, wenn er die Greifen beschreibt. Und interessant ist hier nun vor allen Dingen, dass er nicht nur sagt, dass da Trinkgefäße daraus hergestellt werden, wie bei Konrad, sondern dass er sogar den Vergleich mit dem Ochsenhorn anbringt. Aber hier gerade nicht, um sozusagen zu entlarven, dass es sich um Ochsenhörner und nicht um Greifenklauen handelt, sondern genau entgegengesetzt, um vielmehr eine Evidenz dafür zu schaffen, dass es wirklich Greifenklauen sind, die eben einfach nur auch so aussehen wie Ochsenhörner.
Friederike Kroitzsch: Das führt uns zurück vor die Vitrine, zu unserer Greifenklaue, die übrigens aus einem Wisenthorn gefertigt ist, zurück zu Lothar Lambacher, der mit einem beeindruckenden Überblick über die Greifenklauen aufwarten kann …
Lothar Lambacher: Das älteste datierte Trinkhorn, das wir heute als Greifenklaue sozusagen mit diesem Begriff belegen würden, ist übrigens das sogenannte Naumburger Ratstrinkhorn. Und da gibt es eine Datierung, puh, 1300 in den 80er Jahren oder so. Das ist das Älteste, wo man eine sichere Datierung hat, weil der Auftrag an den Goldschmied noch da ist. Und allgemein kann man sagen, dass so das 14., im 14. Jahrhundert beginnt das, 15. Jahrhundert ist der Höhepunkt, im 16. Jahrhundert gibt es dann so moderne, renaissancistische Formen, und irgendwann im 17. Jahrhundert läuft das einfach aus als Mode. Höhepunkt ist sicher das 15. Jahrhundert für die Form von Gefäßen. Wobei man sagen muss, also richtige Trinkhörner gab es natürlich seit Urzeiten, die hatte man einfach gehabt. Das Spezifische ist ja die Metallfassung …
Friederike Kroitzsch: Wir erinnern uns: Das Horn ist von zwei Manschetten umfasst, die mit Scharnieren und Spangen verbunden sind. Eine besondere handwerkliche Herausforderung bei einem Trinkgefäß:
Lothar Lambacher: Es ist ja vom Goldschmiedetechnischen interessant, dass es eben keine Beschläge sein dürfen. Wenn man, wie das klassischerweise bei der Kombination von Goldschmiedearbeiten als Beschlag auf irgendeinem Träger üblich ist, einen Nagel durchhaut, dann funktioniert das ja nicht mehr als Trinkhorn, weil es ausläuft.
Friederike Kroitzsch: Wollen wir nachvollziehen, woher unsere Greifenklaue stammt, können wir zwei Spuren verfolgen: Verzeichnet ist sie wohl in einem Inventar der Brandenburgischen Kunstkammer von Johann Gregor Memhardt aus dem Jahre 1665, das heute aber nicht mehr erhalten ist.
Lothar Lambacher: Und in diesem Inventar von Memhardt, wird die Herkunft dieses Hornes als aus einem ungarischen Kloster beschrieben.
Katharina Kwaschik: Eintrag: Horn von den heil. 3 Königen, worin sie Weihrauch und Myrrhen, nebst einer Schaale, worin sie Gold geopfert haben sollen […] kommt aus einem Kloster in Ungarn.
Friederike Kroitzsch: Also Ungarn? Zugleich führt uns das dünn an einer Stelle in das Horn gekritzelte „Jochumus Dannewollt 1564“ in eine andere Richtung.
Lothar Lambacher: Jochem Dannewollt, den möchte man ja nicht als Insassen eines ungarischen Klosters oder so vermuten. Dieser Dannewollt hat das im 16. Jahrhundert besessen und hat da seinen Namen reingekrakelt. Solche Besitzervermerke, oft eigenhändige, die findet man relativ häufig. Die darf man nicht mit Autorenbezeichnungen, mit Künstlerinschriften oder so verwechseln …
Friederike Kroitzsch: Vielmehr verweist der Name in den skandinavischen Raum, konkreter nach Dänemark, wo allein im Nationalmuseum 26 Greifenklauen aufbewahrt werden. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hat das Königshaus der Hohenzollern unsere Greifenklaue – ob nun aus Dänemark oder Ungarn stammend – für die Kunstkammer erworben. Das Trinkhorn wurde nicht zu religiösen Zwecken, nicht für die Aufbewahrung von Reliquien genutzt, sondern diente als Objekt, das verwundert und überrascht.
Lothar Lambacher: Nichtsdestotrotz sind, ist das ein Spezifikum der profanen Geräte, Goldschmiedegeräte, des hohen und späten Mittelalters, dass die natürlich nicht strictissime von sakralen Gegenständen getrennt sind. Da tauchen selbstverständlich christliche Sentenzen auf. Da sind selbstverständlich Querverbindungen da zu sakralen Geräten, sowohl im Formalen wie im Inschriftlichen und so weiter. Das ist ganz normal. Da gibt es nicht diese ganz glasklare Trennung, wie man sich das vielleicht vorstellt.
Friederike Kroitzsch: Das erklärt dann auch die Inschrift mit den Heiligen Drei Königen.
Lothar Lambacher: Diese Umschrift mit den Namen der, den legendären Namen der Heiligen Drei Könige, tritt sehr sehr häufig an den Trinkhörnern auf, an den Greifenklauen. Nach meiner Schätzung würde ich sagen bei einem Drittel etwa. Das heißt, das ist die mit Abstand häufigste Art der Inschrift oder Zuschrift.
Friederike Kroitzsch: Der Greifenklaue werden besondere Fähigkeiten zugeschrieben. Ähnlich wie die Reliquien eine heilende Wirkung haben können, so glaubte man, dass die Hörner etwa entgiftend auf das Getränk wirkten. Dass das Gefäß eine besondere Wirkung auf den Inhalt hat, kennen wir bereits von der Teekanne aus Goldrubinglas aus einer anderen Folge dieses Podcasts. Wie das Trinkhorn gehörte die Teekanne übrigens auch zur Kurfürstlichen Wunderkammer. Vielleicht standen sie sogar einmal zusammen in einem Schränkchen? Um die Bedeutung der Inschrift mit den Heiligen Drei Königen auf der Greifenklaue zu verstehen, sprechen wir mit …
Jutta Eming: Ich bin Jutta Eming und bin Professorin für deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Freien Universität Berlin.
Friederike Kroitzsch: Beruht die magische Wirkung, die den Objekten und Reliquien zugeschrieben wird, auf ein und demselben Konzept des Wunderbaren? Und welche Rolle spielen dabei die Heiligen Drei Könige?
Jutta Eming: Also Objekte in Wunderkammern, die ähneln in ihrer Verfasstheit sehr stark Reliquien. Es sind aber keine Reliquien. Also Reliquien wirklich als heilige Fragmente, Fragmente von heiligen Körpern oder von Objekten, die mit heiligen Körpern in Berührung waren, die gehörten nicht in die Wunderkammer. Aber die Aufbereitung von Objekten in der Wunderkammer, ähnelt sehr stark den Reliquien. Und es ist in der Forschung ein heiß umstrittenes Thema, wie weit Magie und Religion, oder gerade christliche Religion, sich eigentlich strukturell ähneln. Das ist deshalb natürlich nicht trivial, als die christliche Religion mit dem Anspruch aufgetreten ist, dass sie nicht magisch ist, dass sie mit Magie, also, dass Magie dem Teufel zugehört, und die Religion auf der anderen Seite steht. Das heißt bei diesem Objekt würde ich sagen, gibt es tatsächlich einen Versuch, eine Aura zu konstituieren. Und da diese drei Namen von den Drei Heiligen, ja, ‚Königen‘, ‚Weisen‘, ‚Gelehrten‘ – Μάγοι ist die Bezeichnung, die da in der, in der Bibel steht im Original – das ist, das ist ein hoch interessanter Fall, denn diese drei Magier, weil sie als solche bezeichnet sind im neuen Testament, sind der Grund dafür, dass der Magiebegriff im Mittelalter nicht vollkommen verteufelt worden ist. Verteufelt muss man wirklich sagen. Also der Begriff Magie ist sonst negativ besetzt, und es gibt diese eine Ausnahme, und das sind die drei Weisen aus dem Morgenland. Und was haben die gemacht? Die haben den Stern von Bethlehem gelesen – ist klar, ne? – und das ist eine magische Tätigkeit. Also in den Himmel zu sehen, und da nicht einfach einen Himmelskörper zu sehen, sondern daraus etwas zu entziffern. Das ist natürlich eine, ist die berühmte Astrologie, die auch seit dem Frühmittelalter immer in Verruf stand, eben magisch zu sein. Und die machen das, und die machen damit aber etwas Positives: Sie erkennen, dass der Heiland geboren worden ist und reisen nach Bethlehem, um ihn zu ehren. Und das war immer so auch ein Stachel im Fleisch des mittelalterlichen Magieverständnisses, dass es nicht ganz schlecht sein kann.
Friederike Kroitzsch: Bei der Greifenklaue handelt es sich um ein Objekt, das potentiell Träger einer verteufelten Magie ist. Aber die Inschrift trifft diesbezüglich eine eindeutige Aussage.
Jutta Eming: Das Statement heißt: Seht her! Diese Greifenklaue, obwohl sie zu einem Tier gehört, das noch niemand gesehen hat, von dem wir uns vielleicht fragen, ob es existiert, ob es unheimlich ist, das gehört zu uns. Es ist Teil von Gottes Schöpfung.
Friederike Kroitzsch: Jetzt ist die Greifenklaue nicht nur ein Objekt zum Bestaunen …
Jutta Eming: Das Objekt in der Wunderkammer ist ästhetisches Objekt und Wissensobjekt auf einmal. Das heißt: Es zeigt mir etwas, ich bilde mich daran und zugleich bewundere ich es ob seiner Schönheit. Und gerade diese Verbindung bringt mich zum Staunen.
Friederike Kroitzsch: Und wie verhält sich dieses magische Wissen nun zu dem Wunderbaren in der Literatur?
Jutta Eming: Da ist es zentral, dass das Wunderbare eigentlich ein Konglomerat ist aus ganz verschiedenen Wissenstraditionen, von dem einiges eben naturgeschichtlich ist – wie eben schon skizziert – sehr viel ist theologisch. Also das Wunder, das theologische Wunder im Mittelalter, ist erstmal das Eingreifen Gottes. Es gibt ein bisschen medizinisches Wissen. Und dann gibt es sehr viele magische Diskurse. Insofern ist das eine von vielen Traditionslinien, die dann ineinanderfließen und da, da zu etwas Neuem werden. Also da diesen Erzählraum konstituieren, der für die höfische Literatur und andere Gattungen auch ungeheuer wichtig wird. So etwa in der schon genannten Epoche ab dem 12., ja, besonders ab dem 13. Jahrhundert.
Friederike Kroitzsch: Im deutschsprachigen literarischen Raum erzählt „Herzog Ernst“ zum ersten Mal von dem staunenswerten Greifenflug. Woher dieses Erzählelement stammt, damit hat sich die Forschung intensiv beschäftigt. Über die Quellen des Abenteuerromans herrscht mehr oder weniger Konsens: Es werden darin zwei unterschiedliche Teile zusammengeführt. Nämlich eine deutsche, auf historischen Ereignissen beruhende Sage und eine lateinische Erzählung, die orientalische Motive mit sich führt.
Falk Quenstedt: Ich stehe dieser These eher skeptisch gegenüber.
Friederike Kroitzsch: Ach so?
Falk Quenstedt: Jüngere Forschungsansätze, zum Beispiel in der Romanistik, versuchen die typischen Ost-West- oder Orient-Okzident-Dichotomien zur Beschreibung solcher Literatur und auch wissensgeschichtlicher Verflechtung zu vermeiden. An deren Stelle sprechen sie von einer gemeinsamen mediterranen Literatur. Und ich finde das eine sehr fruchtbare Perspektive gerade auch für den „Herzog Ernst“.
Friederike Kroitzsch: Also keine klare Zweiteilung in einen deutschen und einen lateinisch-orientalischen Teil. Aber das würde bedeuten, dass den Teilen der Erzählung, in denen der Konflikt um Macht und Ansehen zwischen Kaiser Otto und dem Reichsfürsten Ernst verhandelt wird, auch ein mediterranes Erzählmuster zugrunde liegt.
Falk Quenstedt: …ein Erzählmuster, wie es auch die arabischen Erzählungen zeigen, ein Erzählmuster aber, das mit deutschen historiographischen Motiven überformt wurde, so dass der Eindruck entsteht, es würde sich um eine deutsche Sage handeln.
Friederike Kroitzsch: Aber nun konkreter: Was sind denn die Vorbilder für das Greifenabenteuer im „Herzog Ernst“ in der arabischsprachigen Literatur? Gibt es andere Erzählungen, in denen die Helden oder Heldinnen von einem Greifen davongetragen werden?
Falk Quenstedt: Deutlich ist, dass das Motiv des Einnähens und Von-einem-Vogel-fortgetragen-Werdens in vielen verschiedenen Erzählungen der arabischen Literatur vorkommt. Besonders berühmt sind hier die Reisen von Sindbad dem Seefahrer, die auch viele andere Berührungspunkte mit dem „Herzog Ernst“ haben. Das Einnähmotiv hat der Sindbad zwar nicht, es kommt aber in ähnlichen Abenteuererzählungen in „alf laila wa-laila“, also „Tausend und eine Nacht“, und anderen Erzählsammlungen vor. In der „Geschichte von Dschanschâh“ und der „Geschichte des Hassan von Basra“ zum Beispiel werden die Helden von hinterlistigen Magiern oder Händlern in eine Tierhaut eingenäht, damit sie ein Riesenvogel auf unerreichbare Gebirge trägt, wo Edelsteine oder magische Kräuter zu finden sind. Und der Held in der „Geschichte des dritten Bettelmönchs“ gelangt eingenäht in die Haut eines Schafsbocks und in den Krallen des Riesenvogels Ruch zu einem paradiesischen Palast.
Friederike Kroitzsch: Da muss ich nun aber nachhaken. Ruch? Vogel Ruch? In allen drei Beispielen aus „Tausend und eine Nacht“ fliegt da ein großer Vogel, der so heißt wie ich, und nicht ein Greif, wie bei der Herzog-Ernst-Erzählung. Gibt es dafür eine Erklärung?
Falk Quenstedt: Wenn sozusagen das Narrativ, also dieser Erzählzusammenhang, oder vielleicht kann man auch Erzählkern oder so dazu sagen, in unterschiedlichen kulturellen Kontexten unterwegs ist, wird sozusagen das bekannteste oder das irgendwie überzeugendste Tier herangezogen, was so einen Flug bewerkstelligen könnte. Und in den arabischen Erzählungen ist da eben eher ein Wissenskontext wichtig, in dem der Vogel Ruch eine wichtige Rolle spielt. Und in den europäischen, lateinischen oder in den europäischen auch deutschsprachigen Erzählungen ist das der Wissenskontext der Greifen, die einfach das bekanntere oder das bekannte riesige Flugtier sind.
Friederike Kroitzsch: Wir hatten ja gesagt, dass „Herzog Ernst“ im deutschsprachigen Raum in zahlreichen verschiedenen Fassungen über sieben Jahrhunderte überliefert wurde. Wir haben damit also auch zahlreiche Fassungen des Greifenflugs vorliegen. So wie aus dem Vogel Ruch der Greif wird, ist auch zu erwarten, dass die Erzählungen in vielen Facetten voneinander abweichen. Vielleicht ändert sich hier auch das Wissen um die Greifen, das erzählt wird. Um das einschätzen zu können, müsste man diese Passagen alle nebeneinander halten und miteinander vergleichen. Und genau das hat Falk Quenstedt gemacht.
Falk Quenstedt: Bei diesem Vergleich ging es mir vor allen Dingen um Fragen wie: Welchen Aspekten schenkt die Erzählung besondere Aufmerksamkeit? Welches Wissen wird vorausgesetzt? Und was muss erklärt werden im Text? Und wie wird es dann erklärt? Macht der Erzähler etwa einen Exkurs oder spricht eine der Figuren? Und: Spielen die Klauen der Greifen überhaupt eine wichtige Rolle bei der Darstellung des Flugs?
Friederike Kroitzsch: Und das Ergebnis der vergleichenden Lektüre?
Falk Quenstedt: Ja, im Überblick über alle Fassungen zeigen sich nur kleinere Veränderungen, die keine stringente Entwicklung erkennen lassen.
Friederike Kroitzsch: Aber?
Falk Quenstedt: Auffällig ist aber, dass in der Prosafassung aus dem späten 15. Jahrhundert, die dann auch gedruckt wird, plötzlich die Klauen der Greifen erwähnt werden. In der Vorlage von dieser Fassung ist es noch nicht der Fall.
Friederike Kroitzsch: Das ist ja genau die Zeit, in der die Wunderkammern entstehen und die ersten Greifenklauen-Trinkhörner für diese Sammlungen angefertigt werden.
Falk Quenstedt: Eine deutliche Bearbeitungstendenz zeigt dann vor allem die Prosa aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, die eine Bearbeitung dieses etwas früheren Drucks ist. Meist kürzt die, nicht aber beim Greifenflug, der nun deutlich plastischer und immersiver dargestellt wird, d. h. es werden mehr Details genannt, und es wird bilderreicher erzählt. Als die Greifen zum Beispiel die Männer forttragen, wird das mit einem Habicht verglichen, der eine Lerche davonträgt. Und von den Greifenjungen wird gesagt, sie seien groß wie Kälber. Diese Vergleiche gibt es vorher nicht. Auch wird stärker aus der Figurenperspektive erzählt, und die Wahrnehmung der Figuren thematisiert, ihr Schmerz und ihre Furcht beim Zupacken des Greifen beschrieben. Die Greifen erscheinen überhaupt in dieser Fassung bedrohlicher, und auch den Klauen wird dabei mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Das Wunderbare wird an dieser Stelle also eher ausgebaut als zurückgenommen.
Friederike Kroitzsch: Noch deutlicher wird diese Entwicklung mit Blick auf andere Erzählungen, die die Greifenflugepisode aus „Herzog Ernst“ übernehmen und weiterspinnen. Also insbesondere der Erzählkreis um die bereits erwähnte Sage von Heinrich dem Löwen, bei dem die Klauen des Greifen eine noch prominentere Rolle spielen.
Falk Quenstedt: Diese Sage wird, ähnlich wie der „Herzog Ernst“, ab dem 15. Jahrhundert noch über lange Zeit weitertradiert. Die früheste schriftlich greifbare Version dieser Sage ist ein strophisches Gedicht, das nur in einer Handschrift, die zwischen 1471 und 1474 entstand, überliefert ist. Für diese Handschrift ist der Name des Schreibers überliefert, Michel Wyssenherre. Bei Wyssenherre werden die Klauen der Greifen zu regelrechten Akteuren in der Geschichte. Die Greifenflugepisode, die hier klar auf den „Herzog Ernst“ zurückgeht, ist nämlich deutlich erweitert. Als der Held im Greifennest ankommt, klettert er nicht einfach den Berg hinab, wie Herzog Ernst und seine Leute das tun, sondern er tötet die Greifenjungen, schlägt ihnen dann die Klauen ab und benutzt diese anschließend als eine Art Steigbügel, um die Felswand, an der sich das Nest befindet, hinabzusteigen: Er nam die Klauen in beide Hände // und fing an zu stiegen in Gottes Nam, // und slügen des Felses Wände so lange, // bis dass er herabekam. // Wie groß Freude er da gewann // von Brunezwick der edele Fürste, // was ein ellenhafter … // … also ein tüchtiger, vortrefflicher Mann. Der Text sagt dann auch noch, dass er die Klauen mit Heim nach Braunschweig gebracht habe, wo sie heute noch hängen würden: „Da snid er ihnen“ – also er, der Herr von Braunschweig, ihnen, den Greifenjungen – „da snid er ihnen die Klauen abbe, // die hangen zu Brunezwick in der Stadt.“ In diesem Hinweis kann ein ziemlich gewitztes Verfahren ausgemacht werden, das die Erzählung als wahr ausweist. Indem nämlich die Erzählung erklärt, wie ein bestimmtes Objekt – was Verwunderliches, was Seltsames, ein erstaunliches Objekt –überhaupt an diesen Ort gekommen ist. Also es ist ein Objekt, was Fragen aufwirft, und zur Erklärung kann man eine Herkunftsgeschichte erzählen. Und die Erzählung liefert nun diese Geschichte zu dem Objekt, das es ja tatsächlich gibt. Dadurch wird die Erzählung gestützt in dem, was sie behauptet. Zugleich liefert sie aber auch die Erklärung für dieses Objekt. Also insofern gibt es hier so eine Wechselseitigkeit von Erzählung und Objekt. Das kann man an der Greifenklaue und an der Sage von Heinrich dem Löwen schön sehen.
Friederike Kroitzsch: Und so führt uns ein Fassungsvergleich der Greifenepisode tatsächlich wieder zurück zur Greifenklaue als Sammlungsobjekt, hier in die Sammlung eines Doms. Eine andere Greifenklaue, das sogenannte Horn des Heiligen Kornelius, wird als Reliquienbehältnis in der Kirche St. Severin im Erzbistum Köln aufbewahrt und zu Pilgerwallfahrten ausgestellt. Papst Kornelius soll die Fähigkeit gehabt haben, durch seine Gebete Menschen von der Fallsucht – heute würden wir sagen, von der Epilepsie – zu heilen. Die Legende berichtet davon …
Matthias Dittmer: Darf ich?
Friederike Kroitzsch: Gern.
Matthias Dittmer: Der Heilige Kornelius, Papst aus dem 3. Jahrhundert, spaziert im Umland Roms, als plötzlich ein riesiger Greif vom Himmel hinabgesegelt kommt. Zuckend, flatternd kann er sich nicht in der Luft halten und knallt wenige Meter vor dem Heiligen auf den Boden. Der fallsüchtige Greif versucht sich zu erheben, es gelingt ihm aber nicht. Da kniet der Heilige Kornelius nieder und spricht ein Gebet, mehrfach das Kreuzzeichen machend. Und siehe da. Den Greif verlässt das Zittern, majestätisch erhebt er sich und fliegt eine Runde. Zurück bei Kornelius bricht sich der Greif mit seinem Schnabel eine Kralle eines Vorderbeines ab und legt sie Kornelius zu Füßen. Erst dann fliegt er davon. Fortan nutzte der heilige Papst Kornelius die Greifenklaue als Trinkhorn.
Friederike Kroitzsch: Weiß der Greif, dass Greifenklauen bei den Menschen als wertvolle Gegenstände angesehen werden? Warum sonst sollte er seine Klaue verschenken? – Beide Erzählungen führen uns in den Kirchenraum. Schon lange, bevor Wunderkammern entstanden, wurden kuriose Objekte in Kirchen aufbewahrt und ausgestellt. Dazu kann uns ein Experte Näheres erzählen.
Stefan Laube: Ich heiße Stefan Laube und lehre als Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität, und zugleich forsche ich an der Herzog-August-Bibliothek, zurzeit zur Bildsprache der Alchemie.
Friederike Kroitzsch: Stimmt es tatsächlich, wie in der Sage von Heinrich dem Löwen behauptet, dass da eine Greifenklaue an einem Pfeiler mitten im Braunschweiger Dom hing?
Stefan Laube: Es ist wirklich eine gängige Praxis. Wir müssen uns davon verabschieden, von der Vorstellung, dass Kirchen so hehre, sakrale Räume sind, wie wir das seit der Moderne gewohnt sind. Da gibt es die Betriebsamkeit des geschäftigen Alltags, wo Lärm herrscht und gehandelt wird und man seinen alltäglichen Geschäften nachgeht. Und auf der anderen Seite gibt es seit der Moderne immer diese Stille des sakralen Raumes durch eine wiederinstandgesetzte Kirche. Man geht hinein und sofort strahlt diese Räumlichkeit eine gewisse Aura aus, die den Besucher innewerden lässt. Und das war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit viel schillernder.
Friederike Kroitzsch: Viele der seltenen und bestaunenswerten Objekte wurden mit biblischen Erzählungen in Verbindung gebracht, auch, um diese zu veranschaulichen.
Stefan Laube: Aber die Greifenklaue sollte von vornherein das abenteuerliche Leben eben von Heinrich dem Löwen illustrieren. Keiner hat die Greifenklaue mitgebracht, ohne von sich zu behaupten, sie in einer abenteuerlichen Geschichte irgendwie bekommen zu haben. Und diese Sage, die ja tatsächlich existiert, sollte mit dieser Greifenklaue am Leben erhalten werden.
Friederike Kroitzsch: Und wie kommt nun die Klaue in eine Wunderkammer? Was haben Domsammlung und Wunderkammer miteinander zu tun?
Stefan Laube: Ja, man kann ja die Geschichte der Kunst- und Wunderkammern ganz unterschiedlich erzählen, und ich habe einen bestimmten Strang in meinen Forschungen sehr stark gemacht. Ich habe gesprochen von der Entstehung der Kunstkammer aus der Trennung des Reliquiars von der Reliquie …
Friederike Kroitzsch: Die Fürsten lassen prächtige Objekte herstellen, die aus organischen Naturmaterialien, wie aus Muscheln, Straußeneiern oder auch aus Horn bestehen, und die dann mit kunstvoll gefertigten Metallfassungen versehen werden …
Stefan Laube: … und meine These war eben, zu sagen, dass es immer mehr auf diese Fassung ankommt und natürlich auch auf das organische Substrat, weil dieses Zusammenspiel zwischen Natur und Kunst spielt da eine große Rolle, aber dass im Grunde immer mehr vom Inhalt, vom Reliquieninhalt abgesehen werden konnte. Die strahlten so eine faszinierende materielle Qualität aus, dass letztendlich dieser ursprüngliche Hauptinhalt dieser Objekte, der Reliquien, immer mehr in den Hintergrund geraten sind. Und Mitte des 16. Jahrhunderts entstehen dann eben bei den wichtigen Fürsten, gerade auch im Heiligen Römischen Reich, dann auf einmal diese Kunstkammern.
Friederike Kroitzsch: Die Wunderkammern stellten den Versuch dar, den Makrokosmos der ganzen Welt im Mikrokosmos einer Kammer abzubilden. Doch wer kam im 15. bis 17. Jahrhundert überhaupt in den Genuss, solch eine Wunderkammer zu besuchen?
Stefan Laube: Die Objektvielfalt in der Kunstkammer war jetzt zwar permanent ausgestellt, aber sie war in der Regel nur einem ausgewählten Publikum zugänglich. Also, man musste dann eben, wenn man zum Beispiel in Dresden war, als Reisender im 17. Jahrhundert in der Regel dem Kustos anfragen, am besten auch schriftlich vorher, dass man eben jetzt in Dresden ist, und ob er nicht bereit ist, ihnen diese Objekte zu zeigen. Und das war ein sehr überschaubarer Kreis von Leuten, natürlich nicht nur beschränkt auf den Adel, sondern natürlich auch das Bürgertum, das gebildete Bürgertum. Aber es ist wirklich so, dass in Kirchen natürlich diese Objekte oft hervorgeholt worden sind aus Anlass bedeutender Kirchenfeste. Aber dann waren die Objekte im Grunde Frauen, Kindern, Handwerkern, Bauern, jeder, der in der Kirche war, konnte diese Objekte sehen.
Friederike Kroitzsch: Wenn wir aus der Perspektive moderner Museumspraxis auf die Objekterzählungen schauen: Wie unterscheiden sich die Sammlungen der Frühen Neuzeit von denen in heutigen Museen?
Stefan Laube: … der Appell, der bei den Kunstkammern des Barocks im Vordergrund steht, ist wirklich: „Schau auf mich und staune“. Und wenn ich jetzt mal in die Moderne gehe, da gibt es auch so ein Kurznarrativ, auch so einen Appell: „Rette, was Du nur retten kannst.“
Friederike Kroitzsch: Schau auf mich und staune! Und diese Sammlungs- und Ausstellungspraxis hat Einfluss auf das Wunderbare in den zeitgleich entstehenden Fassungen des „Herzog Ernst“?
Falk Quenstedt: Ernst besteht auf seiner Reise nicht nur zahlreiche Abenteuer, sondern betätigt sich auch als Sammler. Neben den Edelsteinen bringt er einzelne Vertreter der sogenannten monströsen Völker mit zurück in das Reich. Dort sorgen diese Wundermenschen dann für gehöriges Aufsehen.
Friederike Kroitzsch: Huch. Spoileralarm!
Matthias Dittmer: Genau! Da waren wir ja noch gar nicht angelangt.
Friederike Kroitzsch: Wir hatten Herzog Ernst ja nach erfolgreichem Greifenflug unterhalb des Felsens, auf dem sich das Greifennest befindet, aus den Augen verloren. Vor dem sicheren Verhungern auf der Insel gerettet! Aber würde er den Weg zurück ins heimische Fürstentum finden und die Gunst des Kaisers wiedererlangen?
Matthias Dittmer: Aber, wieder ganz kurz?
Friederike Kroitzsch: Bitte.
Matthias Dittmer: Nachdem der Herzog Ernst, Graf Wetzel und die anderen vier Gefährten, die per Greifenflug gerettet wurden, sich in einem Wald unterhalb des Felsens gefunden hatten, mussten sie auf einem unterirdischen Fluss durch ein Gebirge fahren, wobei Ernst einen leuchtenden Karfunkelstein aus den Wänden schlug. So gelangten die Reisegefährten in das Land der Einäugigen, der Arimaspen. Als wundersame zweiäugige Wesen erregten Herzog Ernst und sein Gefolge Aufsehen und wurden zum König der Einäugigen gebracht. Dieser erkannte Ernst als einen Fürsten und nahm ihn in seinen Dienst auf. In den darauffolgenden sechs Jahren erlernte der Herzog ihre Sprache und führte mit seinen Mannen zahlreiche Kämpfe gegen andere Wundervölker. Sie besiegten die Plattfüßigen, die nur einen Riesenfuß haben, den sie als Regenschirm benutzen können, und danach die Langohrigen, deren Ohren so groß sind, dass sie sich gänzlich in diese einwickeln können. Sie befreiten die Pygmäen von aggressiven Kranichen. Anschließend unterwarfen sie auch noch die Riesen. Von jedem dieser Wundervölker behielt der Herzog Vertreter bei sich. Als eines Tages in Arimaspi endlich ein Boot anlegte, das in heimische Gefilde fuhr, machte der Herzog sich mit seinen Gefährten und seiner Sammlung auf die Rückreise. Die einzelnen Stationen lass ich jetzt mal weg. Beim Hoftag in Bamberg warf Herzog Ernst sich dem Kaiser Otto vor die Füße, und ihm wurde vergeben. Alle staunten über seine Erlebnisse und die Wundervölker, und Herzog Ernst erhielt sein Land und seine Ehre zurück und regierte in Bayern, sehr zur Freude seiner Mutter Adelheid. … Naja, lesen sie es selber nach …
Friederike Kroitzsch: Das letzte Drittel des Romans wird also dominiert von den Begegnungen des Herzogs mit verschiedenen Wundervölkern und der Sammlung ebendieser. Welchen Status haben denn Wundermenschen im mittelalterlichen Wissen?
Falk Quenstedt: Diese Wundermenschen, oder im Lateinischen auch monstra, gehören ganz ähnlich wie die Greifen zur gelehrten Wissenstradition über ferne Weltgegenden im äußersten Osten oder Süden der Welt. Also auf mittelalterlichen Karten, die die Welt in einer Gesamtsicht zeigen, auf einer sogenannten mapa mundi, werden oft diese Wundervölker auch dargestellt. Sie gehen auf ethnografische Beschreibungen in der griechischen Literatur der Antike zurück. Deshalb tauchen sie nicht nur im lateinischen, sondern etwa auch im arabischen Gelehrtenwissen auf, und eben auch in daran anknüpfenden Erzähltraditionen.
Friederike Kroitzsch: Sind diese monstra mit Monstern aus Horror- und Abenteuerfilmen vergleichbar – Wesen also, die den Helden nach dem Leben trachten?
Falk Quenstedt: Also der Begriff der monstra hängt durchaus mit dem modernen Begriff der Monster zusammen, also etymologisch. Aber die Vorstellung, die sich damit verbindet, ist dann doch eine ziemlich andere. Es gibt unter den monstra zwar auch bedrohliche Völker, die zum Beispiel Menschen fressen oder Ähnliches, aber diese Völker sind durchaus ambivalent in ihrem Erscheinungsbild und können auch sehr freundlich sein. monstra kommt vom lateinischen monstrare, was im Grunde genommen so viel bedeutet wie „zeigen“. Und so lässt sich der Begriff auch verstehen: Also die monstra stehen offenbar für etwas, sie zeigen irgendetwas an.
Friederike Kroitzsch: Beispiele sowohl für friedliche als auch für gefährliche monstra finden wir im „Herzog Ernst“: Die Einäugigen integrieren den Herzog in ihre feudale Welt, und er macht Karriere bei ihrem König. Noch vor der Episode mit dem Magnetberg und dem Greifenflug trifft er aber auf das Wundervolk der Kranichköpfigen, wo es zu einem erbitterten Kampf kommt.
Falk Quenstedt: Das spannende an diesen Kranichmenschen von Grippia ist tatsächlich, dass sie in einem deutschsprachigen Text, Erzähltext, in einem eher literarischen Text, zuerst auftauchen, und es dann mit der Zeit gewissermaßen schaffen, in das gelehrte Wissen, in die gelehrten Wissenstraditionen einzugehen. Das lässt sich ganz konkret greifen mit der berühmten Weltchronik des Nürnberger Arztes und Humanisten Hartmann Schedel, die 1493 erschienen ist. Dort sind die Kranichmenschen dann nämlich ganz selbstverständlicher Bestandteil einer Auflistung und eines Bilderkatalogs der Wundervölker. Hier bringt der literarische Text also gewissermaßen eine neue Spezies der monstra hervor.
Friederike Kroitzsch: Herzog Ernst baut also eine Sammlung auf und führt diese mit sich. Es wird im Text gesagt, dass Ernst die Wundermenschen zu seinem Zeitvertreib mitnimmt. Eine Sammlung von Einäugigen, Einfüßigen und Pygmäen erinnert uns an die stark kolonialistisch und rassistisch geprägten Völkerschauen des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Herzog-Ernst-Erzählung – selbst in den Fassungen des 16. Jahrhunderts – ist die Sammlung weniger verknüpft mit einem Überlegenheitsgefühl der Zweiäugigen. Sie löst schlichtweg Staunen aus und mehrt damit den Ruhm des Sammlers.
Falk Quenstedt: Die Kunde von Ernst und seinen Wundern tragen Pilger schließlich bis zum Kaiser, der sich daraufhin vornimmt, Ernst zu vergeben. Der Text legt nahe, dass die Wunder daran also nicht ganz unschuldig sind, dass es zu dieser Aussöhnung zwischen Kaiser und Herzog kommen kann. Nach der Versöhnung verlangt der Kaiser dann sogar einen Teil von Ernsts Wundern, die dieser ihm nur widerwillig, wie ganz deutlich gemacht wird, überlässt. An diesem letzten Teil wird in sicherlich literarisch modellhafter Weise die politische und soziale Bedeutung des Wunderbaren innerhalb der höfischen Gesellschaft, denke ich, sehr schön deutlich.
Friederike Kroitzsch: Wagen wir nun eine letzte Hypothese. Könnte es sein, dass die Wunderkammern der Fürsten, die im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit entstehen, wiederum einen ganz konkreten Einfluss auf die Herzog-Ernst-Erzählung hatten?
Falk Quenstedt: Tatsächlich ist es so, dass die Texte da verändern an diesen Punkten. So bauen sie zum Beispiel das Spektakel, das Ernsts Wunder zu bereiten im Stande sind, erheblich aus und beziehen dabei nun auch eine städtische Öffentlichkeit als neues Publikum dieses Wunderspektakels mit ein.
Friederike Kroitzsch: So lesen wir in der Prosafassung aus dem 16. Jahrhundert, wie Herzog Ernst mitsamt seiner Wundermenschen-Entourage den Einzug in Jerusalem inszeniert und damit einen großen Menschenauflauf verursacht. Er schickt die Wundermenschen mit einem Diener vor zu ihrer Herberge.
Falk Quenstedt: Wie nun der Diener durch die Stadt zog mit den wunderlichen Leuten, erschrake das Volk sehr, lief alles dem Diener nach, besahen die seltsamen Leut. Nun ward die Gass so volle Pilger, das niemand kundt zu dem Haus kommen, darin der Diener ward gezogen zur Herberg. In dem reit Herzog Ernst mit großen Freuden in die Stadt, mit seinem Vetteren Grafen Wetzelonen, und zweien Dienern und dem Riesen. Als er nun bei die Gass kommt, so sieht er so viel Volks in den Gassen stehen, dass er nicht kundt zur Herberg kommen. Da hieß er den Riesen einen Raum machen mit seiner Stangen, das er täte und durchdrangen das Volk mit großer Arbeit bis in die Herberg. Da hieße der Herzog das Volk an die Fenster stellen, damit sie genug gesehen wurden von jedermann. Wenn Ernst die monstra hier in Jerusalem in die Fenster seiner Herberge stellt, damit sie bestaunt werden können, wird dieses Gebäude hier regelrecht zu einem überdimensionalen Schaukasten oder Kabinettschrank, wie er auch für die Wunderkammern typisch ist.
Friederike Kroitzsch: Ganz am Ende des Textes, als Herzog Ernst dem Kaiser von seinen Abenteuern berichtet, gibt es erneut Änderungen in der Prosafassung.
Falk Quenstedt: Während Ernst erzählt nämlich, führt er hier dem Kaiser die monstra zugleich auch vor und zeigt im Erzählen auf sie: Nun nahm Herzog Ernst seinen Vater bei der Hand, führt ihn zu seinen Leuten und sprach: Lieber Vater, diese Leut hab ich dem König von Arimaspi ganz untertänig gemacht, und dieser Mensch mit dem einen Aug ist in demselben Königreich daheim. Nun seht ihr wohl was mancherlei Gefahr ich erlitten hab. Noch dennoch ist mir einer gestorben zu Paris mit einem breiten Fuß. Die Veränderungen der Fassungen legen es also nahe, dass hier die Sammlungspraxis der Wunderkammer auf das Erzählen, auf die Erzählung zurückwirkt. So tauchen Präsentationsformen, wie sie für die Wunderkammer typisch sind, nun auch im Erzähltext auf. Für uns Literaturwissenschaftler, die sich für Wunderkammern interessieren, besonders spannend ist dabei die enge Verzahnung von Abenteuererzählung und Präsentation der monstra. Vielleicht stellt der Text hier modellhaft eine typische mündliche Kommunikationssituation in einer Wunderkammer dar.
Friederike Kroitzsch: Die Greifenklaue aus dem Kunstgewerbemuseum und der Greifenflug in der literarischen Erzählung „Herzog Ernst“ würde man zunächst einmal zwei unterschiedlichen Bereichen zurechnen. Im Lauf der Episode haben sich jedoch eine Reihe von Verbindungen offenbart. Literatur, gelehrtes enzyklopädisches Wissen und das mirabile Objekt einer Wunderkammer sind miteinander verwoben. Sie beeinflussen sich gegenseitig, ohne dass immer ein klarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung vorliegen würde. Das enzyklopädische Wissen rund um den Greifen beinhaltet die Trinkhörner der Wunderkammer: Aus den Klauen des Greifen werden Trinkhörner hergestellt. Die unter anderem auf der Herzog-Ernst-Erzählung basierende Sage von Heinrich dem Löwen, in der die Klauen plötzlich explizit in die Handlung eingebunden werden, bietet gar eine Herkunftsgeschichte zu einem real existierenden Objekt im Braunschweiger Dom. Der Abenteuerroman „Herzog Ernst“ erzählt zum ersten Mal vom Wundervolk der Kranichköpfigen, die einige Zeit später ganz selbstverständlich zum enzyklopädischen Kanon des Wissens dazugehören. Belassen wir es bei der Rekapitulation dieser drei Stationen unseres Pendelns zwischen Literatur und Wunderkammer. Kehren wir fürs Fazit zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs mit Falk Quenstedt zurück: Warum lohnt es, sich mit Wunderkammerobjekten wie der Greifenklaue auseinanderzusetzen, wenn man das Wunderbare in Erzähltexten untersucht?
Falk Quenstedt: Ich hoffe, es ist deutlich geworden, dass die Geltung des Wunderbaren nicht nur innerhalb der Literatur entsteht, sondern dass dieses spezifische Wissen, diese Wissensform des Wunderbaren aus dem Zusammenspiel ganz verschiedener Kontexte und Praktiken Substanz gewinnt. Es ist gerade das komplexe Transfergeschehen und die intensive Interaktion zwischen verschiedenen Praktiken, die das literarische Wunderbare die Faszinationskraft entwickeln lässt, die es offenbar hatte. Zu diesen Praktiken gehören: die höfische Repräsentation, die mediterrane Erzählkultur, die Tradition des gelehrten Wissens und die Formen des Sammelns im Mittelalter und der Frühen Neuzeit.
Friederike Kroitzsch: Vielen Dank für diese wundersame Wissensreise inklusive Greifenflug!
Falk Quenstedt: Ich danke euch!
Friederike Kroitzsch: Wir danken ebenso Frau Professorin Jutta Eming, dem Stellvertretenden Direktor des Kunstgewerbemuseums, Lothar Lambacher, und dem Privatdozenten Stefan Laube. Das letzte Wort überlassen wir aber Herzog Ernst.
Katharina Kwaschik: Der Kaiser behielt dann den Herzog // noch zwölf Tage bei sich, // damit er ihm alles erzählte //
Falk Quenstedt: der keiser behielt dô den degen // bî im wol gên zwelf tagen, // daz er nû allez muose sagen, // diu manicvalden wunder // und wâ er gewan diu kunder, // daz er niht dar an vergaz,
Katharina Kwaschik: // die vielen seltsamen Abenteuer // und wo er die seltsamen Lebewesen erworben hatte; // es fesselte ihn so sehr, dass er nichts davon überhörte // und keine Gerichtsurteile fällte // noch aus seinem Zimmer kam, // bis er die Geschichten alle vernommen hatte.
Falk Quenstedt: daz er nie an daz gerihte saz // noch ûz sîner kemenâten nie kam, // wan daz er diu wunder von im vernam. // dô liez er es niht belîben: // der keiser hiez dô schrîben, // war umb und wie er in vertreip // und wie lange er in dem lande beleip // und wie er hin fuor und wider kam.
Katharina Kwaschik: Damit ließ er es aber nicht bewenden. // Der Kaiser ließ damals aufschreiben, // warum und auf welche Weise er ihn vertrieben hatte // und wie lange er im Lande geblieben war // und wie er ausgezogen war und zurückkehrte.
Falk Quenstedt: swer disiu mære von im vernam, // der muose weinen alzehant.
Katharina Kwaschik: Jeder, der diese Geschichte des Herzogs gehört hatte, // der musste sogleich weinen.
Falk Quenstedt: unt blîbe wandelbærlîche!
Friederike Kroitzsch: Er meint: Und bleiben Sie in Bewegung.
Friederike Kroitzsch: Das war „Die Greifenklaue“ aus der Reihe Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Eine Produktion des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Falk Quenstedt. Außerdem mit Jutta Eming, Lothar Lambacher und Stefan Laube. Stimmen: Friederike Kroitzsch, Katharina Kwaschik und Matthias Dittmer. Diese Folge ist in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.