Hinter den Dingen

Transkript

Zurück zur Episode

00:00:15: Heute führt uns das sagenumwobene Marienevangelium nach Paris. Anders als die vier kanonischen Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes lässt es eine Frau zu Wort kommen – nämlich Maria Magdalena.

00:00:36: Sie folgte Jesus als Jüngerin und stand ihm besonders nahe. Wie nah standen sich die beiden? Zu nah – in den Augen der Kirche?

00:00:55: Hier im Zentrum der französischen Hauptstadt, in der Kirche Saint-Sulpice, ist es uns gelungen, unter einer Bodenplatte einen Geheimgang freizulegen. Er führt uns über eine schmale Wendeltreppe in verborgene Gewölbe. Dort sind die Beweise dafür versteckt, dass Jesus von Nazareth und Maria Magdalena ein Liebespaar waren und sogar gemeinsame Nachkommen hatten. Wir öffnen eine vor Jahrhunderten versiegelte Tür …

00:01:36: Herzlich willkommen im Depot der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums Berlin.

00:01:42: Naja gut. Heute führt uns das Evangelium nach Maria aus der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums in Berlin direkt in die Bibliothek des Erzpriesters Zacharias im fünften Jahrhundert – und damit in die frühchristlichen Gemeinden, in denen solche Texte gern gelesen, kopiert und verbreitet wurden. Welche Rolle spielt Maria in dem nach ihr benannten Evangelium? Was ist das überhaupt für ein Text? Und wer regt sich denn da so auf?

00:02:12: … und alle auf sie hören? Hat er sie mehr als uns erwählt?

00:02:17: Mein Name ist Sophie Ruch und Sie hören:

00:02:22: (Jingle) Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören

00:02:30: „Das Marienevangelium“

00:02:34: Als Codex wird ein antikes Manuskript bezeichnet, das mit einem Lederumschlag zu einem Buch gebunden ist. Und in eben solch einem Buch, dem sogenannten Codex Berolinensis Gnosticus P. 8502 – dem Berliner Gnostischen Codex –, wurden vier Texte überliefert. Einer davon ist das „Evangelium nach Maria“.

00:02:58: Durch die heutige Folge führen uns …

00:03:00: Mein Name ist Jacquline Wormstädt und ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Antikes Christentum an der Humboldt-Universität zu Berlin.

00:03:08: Mein Name ist Christoph Markschies und ich bin an der Humboldt-Universität Professor für Antikes Christentum, also für die Phase, aus der das Marienevangelium stammt, und bin für die nächsten fünf Jahre abgeordnet als Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Und in deren Auftrag ist das Marienevangelium vom Antiquar gekauft worden und an die heutigen Staatlichen Museen in Berlin gegeben worden. Also in der einen wie der anderen Funktion habe ich etwas mit dem Marienevangelium zu tun.

00:03:49: Das Marienevangelium ist in koptischer Sprache verfasst. Jacquline Wormstädt ist evangelische Theologin und Koptologin und hat das Evangelium eigens für diese Folge neu übersetzt. Die koptische Fassung des Textes stammt aus Ägypten, denn der Begriff „Kopte“ bedeutet zunächst schlichtweg Ägypter.

00:04:09: Er wird dann spezieller verwendet für Christen im spätantiken Ägypten bis heute. Also wenn wir heute von Kopten sprechen, dann meinen wir Christen, die zur koptisch-orthodoxen Religion gehören. Das Koptische ist die letzte Sprachstufe des Ägyptischen, eine Mischung aus griechischen Buchstaben plus zusätzlichen, ja, genuin koptischen Buchstaben, die an Laute aus dem Ägyptischen angelehnt sind.

00:04:46: P-euangelion kata Maria

00:04:51: So klingt der Titel „Evangelium nach Maria“ auf koptisch. Die uns vorliegende Überlieferung aus dem Berliner Codex ist lückenhaft. Sie ist aber mit Abstand die vollständigste Fassung, die heute noch erhalten ist. Darüber hinaus gibt es andernorts zwei weitere Fragmente auf Griechisch, die aber nur wenige Sätze überliefern. Dass wir heute überhaupt wissen, worum es im Marienevangelium inhaltlich geht, verdanken wir daher hauptsächlich dieser Berliner Fassung. Das Evangelium lässt sich in drei Teile gliedern.

00:05:25: Der Text beginnt mitten in einem Dialog zwischen dem Erlöser, also Jesus Christus, und seinen Jüngern, die ihm Fragen stellen, die Jesus Christus beantwortet. Dann endet der Dialog, der Erlöser geht weg und die Jünger bleiben zurück und sind traurig, weil Jesus Christus gegangen ist und sie alleine lässt, mit der Aufgabe zu missionieren. Dann tritt Maria als Trösterin auf und wird darum gebeten, Lehre zu vermitteln, die sie allein von Jesus Christus bekommen hat. Was sie dann im Folgenden tut. Und das Ganze passiert in einer Visionsschilderung, also sie schildert eine Vision, die sie vom Erlöser erhalten hat. Und am Ende wird quasi über den Inhalt dieser Vision gesprochen und diskutiert, und es kommt zu einem Konflikt zwischen Petrus und Andreas auf der einen Seite und Maria und Levi auf der anderen Seite.

00:06:21: Bevor wir in das Marienevangelium hineinhören, ein paar Worte zu seiner Überlieferung: Wie so oft bei solchen Schriften gibt es keinen benennbaren Autoren, keine Autorin. Wir müssen davon ausgehen, dass die Erzählung zirkulierte, von verschiedenen Personen aufgegriffen, ergänzt oder abgeändert wurde, ohne Rücksicht auf ein Copyright oder so. Die Forschung spricht daher von living literature – einer lebendigen Literatur –, die steter Veränderung unterworfen ist. Wann genau das Marienevangelium entstanden ist, lässt sich darum nicht präzise datieren. Wir befinden uns aber wohl im zweiten nachchristlichen Jahrhundert. Auf dem Gebiet des gesamten Römischen Reiches bildet sich ein Netz frühchristlicher Gemeinden. Zusammengehalten wird das Netzwerk unter anderem dadurch, dass in den verschiedenen Gemeinden und Gruppen die gleichen Texte gelesen werden.

00:07:18: Die werden zusammengehalten, durch ein Kernkorpus von Texten – die vier Evangelien, die Paulusbriefe. Die werden zusammengehalten durch die Vorstellung, Jesus von Nazareth, also ein gescheiterter Messias-Prätendent, den Sklaventod in einer abgelegenen Provinz gestorben, ist der Heiland der Welt. Sie werden zusammengehalten, dadurch, dass sie bestimmte Rituale gemeinsam feiern und ihr Leben gemeinsam gestalten. Also so eine Mischung aus ethischen Konsensen, aus, wir würden heute sagen, theologischen, dogmatischen Konsensen, darüber wer Jesus Christus ist, auch eine Vorstellung da drüber, dass man, wenn der Mann stirbt und die Frau ganz alleine ist, die unterstützen muss, sich drum kümmern muss. Also auch eine bestimmte Vorstellung von einer Gemeinschaft, die man bildet und in der bestimmte Sozialleistungen notwendig sind. Also, ich würde so sagen, ein Set von, weiß ich nicht, zwanzig knappen Formulierung, die nirgendwo wirklich schriftlich festgehalten sind, die aber da Konsens sind.

00:08:27: Im Umfeld dieser miteinander verknüpften, frühchristlichen Gemeinden entsteht im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt das Marienevangelium. Es gehört aber mit Sicherheit nicht zum Kerncorpus an Texten, die die Gemeinden dieser Zeit miteinander teilen, denn dafür ist es zu selten überliefert. Aus dem zweiten, dritten und vierten Jahrhundert wurden neben den zwei griechischen Fragmenten und der koptischen Version in Berlin bisher keine weiteren Abschriften gefunden. Die uns vorliegende Fassung des Marienevangeliums aus dem Berliner Codex stammt aus dem fünften Jahrhundert. Sie ist also vermutlich etwa 300 Jahre nach der ersten Textfassung entstanden. Die Herkunft unserer Fassung lässt sich aber ziemlich genau örtlich und zeitlich bestimmen – dank des ledernen Umschlags.

00:09:17: Denn bei der Rekonstruktion des hinreißend schönen Lederumschlags – der ist mal sehr sorgfältig, konservatorisch behandelt worden – kam heraus, dass der Besitzer sich auf diesem Lederumschlag eingeschrieben hat. Und da steht: Zacharias Archipresbyteros. Der Archipresbyter Zacharias, ein Oberpriester, und dem hat das Ganze offenbar gehört. Wir haben leider auch nicht andere Bücher, auf denen Zacharias Archipresbyter draufsteht, also wir können auch seine Bibliothek nicht rekonstruieren.

00:09:53: Leider hat Zacharias – anders als Leonardo da Vinci – keine Bücherlisten hinterlassen, die uns in dieser Frage weiterhelfen könnten. Er war vermutlich Oberpriester eines Klosters oder stand einer Kirche im oberägyptischen Achmim vor. Das Christentum ist zu diesem Zeitpunkt bereits weit verbreitet mit einer soliden Finanzbasis, so dass sich Zacharias vermutlich schon eine Bibliothek einrichten konnte. Was mit diesen Büchern über die Jahrhunderte geschah, bleibt für uns meist im Dunkeln. Erst gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erscheint der Codex wieder auf dem Radar und gelangt nach Berlin, wo er seinen heutigen Namen erhält.

00:10:35: Der Berliner Gnostische Codex ist durch einen Menschen nach Berlin gekommen, der unglaubliche Händlerqualitäten hatte. Der war nicht nur Forscher, sondern Händler. Das erkennt man daran, dass er nicht nur Papyri, wenn man etwas flapsig reden will, vertickt hat, sondern zum Beispiel auch Fisch aus seiner mecklenburgischen Heimat in Berlin verkaufte an seine Kollegen. Und Karl Schmidt, so hieß der Mensch, der hat von einem in Kairo befindlichen Antiquitätenhändler nicht nur einen, sondern unglaublich viele, vor allen Dingen koptische, aber auch griechische Handschriften aus Ägypten mitgebracht. Und so hat er auch diese Handschrift mitgebracht.

00:11:21: Karl Schmidt kaufte den Codex also einem Antiquitätenhändler ab, der als Fundort der Papyri das oberägyptische Achmim angab. Diese Annahme ist durchaus plausibel, sie basiert aber auf einer unzuverlässigen Quelle.

00:11:36: Bei den meisten Papyri und Handschriften, die über Antiquitätenhändler kommen, ist man darauf angewiesen, dem Antiquitätenhändler zu glauben. Und der Antiquitätenhändler hat gesagt: Dieser Codex hat sich in Achmim in einer Nische einer Wand mit Federn zugedeckt befunden. Wenn wir jetzt den Codex angucken und seinen ganz herrlich erhaltenen Lederumschlag, geraten wir schon ins Grübeln. Man muss eigentlich sagen, dass die meisten Händler nicht verraten, woher sie Sachen haben und dazu geflunkerte Geschichten erzählen, was man auch verstehen kann. Denn wenn ich verrate, wo es solche Codices gibt, dann werden natürlich die Gelehrten, die mir bisher die Codices abkaufen, da selber hingehen, zum Spaten greifen und versuchen ohne den Zwischenhändler den Codex zu bekommen.

00:12:32: Mit dieser Herkunftsanekdote im Gepäck hat Karl Schmidt den Codex Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Berliner Akademie der Wissenschaften übergeben und die Handschrift wurde fortan konserviert im …

00:12:44: Also, herzlich willkommen im Depot der Papyrussammlung des Ägyptischen Museums Berlin.

00:12:50: Hier werden wir von einer absoluten Kennerin des Berliner Codex empfangen.

00:12:54: Mein Name ist Myriam Krutzsch, ich bin die Papyrusrestauratorin und Sammlungsrestauratorin und hab eben auch den Papyrus Berolinensis P. 8502 vor einigen Jahren restauriert.

00:13:06: Jetzt haben wir gehört, dass ein Codex ein zu einem Buch gebundenes Manuskript ist. Im Depot finden wir aber mehrere Holzkisten vor, in denen die Doppelblätter des zerlegten Codex zwischen Glasscheiben aufbewahrt werden.

00:13:22: Dieser frühe Codex ist einlagig. Das heißt, wir haben ursprünglich 38 Doppelblätter gehabt und die wurden alle hintereinandergelegt und dann geheftet.

00:13:36: Bei einer früheren Konservierung wurde der Codex wegen seiner altersbedingten Instabilität nicht nur in die 38 Doppelblätter aufgelöst, sondern sogar in seine Einzelblätter zerlegt. Dabei wurden die Doppelblätter teilweise in der Mitte, am Falz, zerschnitten.

00:13:54: Das hat man gemacht – ich vermute aus zwei Gründen. Zum einen war die Heftung nicht mehr so stabil und es waren viele der Doppelblätter schon zerrissen. Das andere ist, dass wenn man natürlich einen einlagigen Codex hat und so vier verschiedene Texte drin hat, dass es einfach einfacher in der Handhabung ist, wenn man dies als Einzelblätter hat. Weil man ja jetzt, wenn man hier jetzt so ein Doppelblatt rausnimmt, dann haben sie zwei verschiedene Texte nebeneinander.

00:14:32: Also gehörte es zu den Restaurierungsarbeiten von Myriam Krutzsch, die Einzelblätter wieder zu Doppelblättern zusammenzufügen. Während der Restaurierung beschäftigt sich Myriam Krutzsch nicht mit dem Inhalt des Textes, sondern sie liest das Material. Im Ledereinband entdeckte sie den eingeritzten Eigentümervermerk: Zacharias Erzpresbyter. Mit einer genauen Lektüre der auf dem Leder befindlichen Verzierungen und Perforierungen konnte sie zeigen, dass der Einband bereits recycelt war.

00:15:06: Das sieht man, wenn man sich das genauer anschaut, und nicht einfach nur hier so sieht: Aha, schönes Dekor, ähnlich ja so geometrische Linien, wie man sie von anderen koptischen Einbänden kennt, sondern wenn man sich das genau anschaut und sagt: Wie kann denn im Falz eine Schließe sein? Geht gar nicht. Es macht keinen Sinn.

00:15:24: Was das Papyrusmaterial betrifft, folgte sie bei der Restaurierung den gewobenen organischen Strukturen der Papyrusfasern und setzte dort, wo sie direkte Anschlüsse fand, die getrennten Doppelblätter wieder zusammen.

00:15:40: So, und wenn ich dann also so einen direkten Anschluss habe, dann kann ich den auch verbinden mit einer Methylzellulose, also mit einem Kleister, also ein ähnlicher Klebstoff, der ja ohnehin in der Pflanze ist – also reine Zellulose im Grunde genommen.

00:16:00: Die restaurierten Doppelblätter wurden so zwischen den Glasscheiben angebracht, dass es aussieht, als habe man den aufgeschlagenen Codex vor sich liegen.

00:16:09: Und die sind alle so positioniert, dass wir hier den gedachten Falz haben, und die exakt übereinanderliegen, so dass man wenigstens optisch so den Eindruck eines Buches bekommt.

00:16:26: Wovon erzählt nun das Marienevangelium? Fügen wir die einzelnen Doppelseiten des Codex wieder zusammen, erhalten wir einen unvollständigen Text. Denn der Codex ist schon im neunzehnten Jahrhundert mit fehlenden Seiten in Berlin angekommen.

00:16:42: Also von dem Text ist ungefähr die Hälfte noch vorhanden. Am Anfang fehlt ein großes Stück und dann in der Mitte. Die Frage, woher wir wissen, wie viel fehlt, ist eigentlich relativ einfach zu beantworten. Die Seiten in dem Codex sind nummeriert. Und das heißt, wir können sehen, wie viele Seiten fehlen und wo Seiten fehlen. Was fehlt, ist die schwierigere Frage.

00:17:07: Hören wir uns also das Marienevangelium gemeinsam mit Jacquline Wormstädt auszugsweise an.

00:17:14: Also der überlieferte Text setzt ein mit einer Frage, deren Anfang wir nicht haben und damit nicht wissen, wer diese Frage stellt. Und die Frage lautet erstmal: Löst Materie sich irgendwie auf? Oder geht Materie irgendwie zu Ende?

00:17:34: … wird die Materie auch zerbrochen werden oder nicht?

00:17:42: Der Retter sprach:

00:17:44: Alle Natur, alles Plasma, alle Schöpfung sind ineinander und miteinander und sie werden wieder in ihre eigene Wurzel aufgelöst werden. Denn die Natur der Materie ist es, sich in die zu ihrer eigenen Natur gehörigen Dinge aufzulösen. Der, der Ohren hat zum Hören, möge hören.

00:18:08: Petrus sagte zu ihm:

00:18:10: Wie du uns alle Dinge mitgeteilt hat, sage uns auch dies eine: Was ist die Sünde des Kosmos?

00:18:18: Der Retter sagte:

00:18:20: Es gibt keine Sünde, aber ihr seid der, der Sünde macht, wenn ihr die Dinge, die der Natur der Unzucht gleichen, tut, welche ‚Sünde‘ genannt werden.

00:18:30: Wie schwer für uns die theologischen Inhalte zu fassen sind, zeigt die Antwort auf Petrus’ Frage danach, was Sünde ist. Erst äußert Jesus, dass es keine Sünde gebe.

00:18:43: Dann kommt eigentlich eine sehr einschränkende Formulierung, also der Erlöser sagt: Es gibt keine Sünde, sondern Sünde existiert eigentlich erst, wenn ihr die Dinge tut, die dem Ehebruch gleichen. Also er beschreibt, dass Sünde im Vollzug von Taten passiert.

00:19:03: Geht nun und verkündigt das Evangelium des Königreichs. Legt keine einzige Regel fest über das hinaus, was ich für euch festgesetzt habe, und erlasst kein Gesetz wie der Gesetzgeber, damit ihr nicht durch es beherrscht werdet.

00:19:19: Nachdem er diese Dinge gesagt hatte, ging er …

00:19:22: … Sie aber waren betrübt, sie weinten sehr, wobei sie sagen:

00:19:28: Wie sollen wir zu den Heiden gehen und das Evangelium vom Königreich des Menschensohns verkündigen?

00:19:35: Wenn sie jenen nicht verschont haben, wie sollen wir von ihnen verschont werden?

00:19:41: Also spannend ist eigentlich hier im Vergleich zu anderen Dialogen, dass der Text nicht endet, wenn der Erlöser geht, sondern dass es hier der Auftakt der weiteren Erzählung ist. Normalerweise wäre es so, die Trauer oder das Verwirrtsein, das Unsichersein der Jünger und Jüngerinnen am Anfang des Textes steht. Dann würde Jesus Christus als Erlöser auftreten und diese Unsicherheiten ausräumen, und dann würde er gehen, und alles wäre schön. Hier haben wir die Situation, dass der Erlöser geht, die Jünger und Jüngerinnen traurig, ängstlich zurückbleiben, und Maria die Rolle von Jesus Christus einnimmt und die Jünger zu trösten versucht.

00:20:30: Dann stand Maria auf, begrüßte sie alle und sagte zu ihren Geschwistern:

00:20:36: Weint nicht und seid nicht betrübt und zweifelt nicht! Denn seine Gnade wird mit euch allen sein und euch beschützen. Vielmehr aber lasst uns seine Größe preisen, weil er uns vorbereitet und er uns zum Menschen gemacht hat.

00:20:59: Nachdem Maria diese Dinge gesagt hatte, wendete sie ihr Herz dem Guten zu …

00:21:04: Und sie begannen über die Worte des Retters zu diskutieren. Petrus sagte zu Maria:

00:21:10: Schwester, wir wissen, dass der Retter dich mehr liebte als die anderen übrigen Frauen. Sprich mit uns über die Worte des Retters, derer du dich erinnerst. Diese Worte, die du weißt, wir aber nicht, und die wir nicht gehört haben.

00:21:24: Maria antwortete und sprach:

00:21:28: Das, was euch verborgen ist, werde ich euch mitteilen.

00:21:34: Hier wird erstmals auf eine besondere Nähe zwischen Maria und Jesus hingewiesen. Darauf werden wir später noch zurückkommen. Maria schildert den anderen erst einmal ihre Vision.

00:21:46: … ich sah den Christus in einer Vision und ich sagte zu ihm: „Christus, ich sah dich heute in einer Vision.“ Er antwortete und sagte zu mir: „Gesegnet seist du, weil du dich nicht bewegst, wenn du mich siehst. Denn der Ort, an dem der Verstand ist, dort ist der Schatz.“ Ich sagte zu ihm: „Christus, nun sage mir: der, der die Vision sieht, sieht er sie durch die Seele oder durch den Geist?“ Der Retter antwortete und sagte: „Er sieht sie nicht durch die Seele und nicht durch den Geist, sondern der Verstand, welcher in der Mitte von beiden ist, ist es, der die Vision sieht …

00:22:35: In der Visionsschilderung von Maria klafft an dieser Stelle eine Lücke. Mehrere nicht überlieferte Seiten später steigt der Text mitten in einer Passage ein, in der Maria noch immer spricht und den Weg einer Seele in höhere Sphären schildert.

00:22:54: Also die Seelenaufstiegserzählungen sind verbunden mit diesem Ziel, eine Anleitung zu geben, wie die Seele in der Regel nach dem Tod Erlösung erlangen kann. Also die Idee ist: Die Seele bleibt nach dem Tod des Materiellen zurück und steigt dann auf in die wahre Welt, also in die geistige Welt über unserer materiellen, und muss auf diesem Weg dahin feindliche Mächte überwinden.

00:23:23: Wieder kam sie zu der Dritten von den Kräften. Die, die ‚Unwissenheit‘ genannt wird. Sie befragte die Seele, indem sie sagte: „Wohin gehst du? Durch eine Schlechtigkeit wirst du beherrscht und sie aber beherrschte dich. Richte nicht!“ Und die Seele sprach: „Warum richtest du mich, obwohl ich nicht gerichtet habe? Ich wurde beherrscht, obwohl ich nicht beherrschte. Ich wurde nicht erkannt, ich aber habe erkannt, dass das All – sowohl das was zur Erde gehört, als auch das was zum Himmel gehört – sich auflöst.“ Nachdem die Seele die dritte der Kräfte vernichtet hatte, ging sie in Richtung des Himmels und sah die vierte der Kräfte.

00:24:06: Der Text legt nahe, dass die Erzählung des Seelenaufstiegs ein Teil der Vision von Maria war. Und das heißt, uns fehlt ein Teil dieses Anfangsdialogs zwischen dem Erlöser und Maria und irgendwie diese Überleitung zu diesem Seelenaufstieg und die Einführung dazu. Der vielleicht solche Fragen beantwortet hätte: Wer steigt da eigentlich auf? Oder wessen Seele steigt da eigentlich auf? Und in welchem Zusammenhang geschieht das eigentlich, dieser Seelenaufstieg?

00:24:38: Besonders deutlich wird hier der dialogische Charakter des Textes. Die Seele begegnet bei ihrem Aufstieg verschiedenen feindlichen Kräften und überwindet diese, indem sie ihnen die richtigen Antworten gibt.

00:24:52: Entfernen wir uns etwas von den konkreten Inhalten des Evangeliums, um herauszufinden, mit welcher Textsorte wir es hier eigentlich zu tun haben. Das Evangelium nach Maria gilt als apokrypher oder außerkanonischer Text. Wie wir hörten, ist es Teil des sogenannten Berliner Gnostischen Codex. Dennoch wird in der Forschung angezweifelt, dass es sich überhaupt um einen gnostischen Text handelt. Vielleicht können wir die beiden Begriffe – apokryph und gnostisch – für unsere Zwecke etwas beleuchten, um so die Textsorte zu erschließen.

00:25:42: Gnosis ist eine Elitebewegung innerhalb des antiken Christentums, die zu Leerstellen der mehrheitskirchlichen Lehre Zusatzwissen bietet. Und dieses Zusatzwissen betrifft die Frage, was vor der Erschaffung von Adam und Eva geschah, also der Beginn der Welt, und betrifft die Frage, was nach meinem materiellen oder seelischen Tod geschieht, also betrifft den Anfang und das Ende, soweit es durch die Bibel nicht erzählt wird. Und zu diesem Zweck wird eine mythologische Geschichte über den allerersten Anfang und das allerletzte Ende erzählt.

00:26:36: Auf den ersten Blick scheinen das Fragen zu sein, um die es auch im Marienevangelium geht.

00:26:42: Und man muss für das Marienevangelium sagen: Was das Marienevangelium über die Materie sagt, was das Marienevangelium über Sünde sagt, was das Marienevangelium darüber sagt, was die Seele machen soll, um sich in den Himmel zu begeben, das ist nicht spezifisch gnostisch. Das sagen manche Gnostiker, das sagen aber auch ganz viele andere Leute. Der Zorn spielt im Marienevangelium eine ganz große Rolle. Meine Seele muss zornfrei werden. Naja, das ist das Programm, bis heute, der allermeisten, jedenfalls sehr vieler psychologischer Strategien der Selbstoptimierung, des Selbstenhancements. Was ein bisschen stärker gnostisch ist, ist die Vorstellung, Jesus von Nazareth hat nicht nur Sachen offenbart, die in den vier kanonischen Evangelien stehen, sondern da gibt es nochmal eine ganz besondere Offenbarung und die haben wir jetzt in unserem Text stehen. Das findet man häufig in gnostischen Gruppen. Aber das Interessante an diesem Text ist, dass das Setting so ist wie bei Gnostikern, aber der Inhalt ist nicht besonders gnostisch. Also, ich selber würde immer sagen, es ist ein Text am Rande der Gnosis.

00:28:18: Und als apokrypher Text hat es das Marienevangelium nicht in die Bibel geschafft – anders als die Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Das griechische apokryphos bedeutet „verborgen“ und bezeichnet hier außerkanonische religiöse Schriften.

00:28:41: Das nach Maria benannte Evangelium wurde wie viele andere Texte von der katholischen Kirche unterdrückt. Sei es, weil Maria Magdalena als Hauptfigur neben Jesus nicht genehm war, oder weil die religiösen Inhalte nicht passten. Es wurde in den verborgenen Archivkellern des Vatikans versteckt. So wurde über Jahrhunderte verhindert, dass die eigentliche Wahrheit über …

00:29:15: Apokryphe Literatur lockt dazu, Verschwörungstheorien aufzustellen. Und die Verschwörungstheorie zu unserer Literatur lautet: Da gab es ursprünglich eine große Pluralität von ganz vielen Evangelien, und dann kam die böse Kirche und hat das unterdrückt. Und sozusagen noch eine Drehung weiter ist: Und in den Kellern des Vatikan schmoren unglaubliche Mengen solcher Texte. Ja, das würde natürlich nur gelten, wenn nicht Hunderte von Leuten in der vatikanischen Bibliothek alle Handschriften angucken dürften, deutsche Stiftungen Katalogisierungsprojekte finanzieren, damit man auch noch den letzten unbekannten Text, der in vatikanischen Handschriften ist, edieren kann.

00:30:01: Aber es scheint ja deutlich mehr als vier Texte zu geben, die sich Evangelien nennen.

00:30:06: Wir sagen gern über das Marienevangelium, der hat es nicht in die Bibel geschafft. Die Frage ist: Wollte er das überhaupt? Also klar ist, der nimmt Bezug auf biblische Texte, weil er sie zitiert. Also, er ist in jedem Falle sekundär und er zitiert so viele biblische Texte, dass eigentlich relativ klar ist, dass er sich zu ihnen in Beziehung setzen will. Der Kanon sagen wir, also die Sammlung der vier Evangelien, die gibt es als normative Sammlung, die in weiten Teilen der Kirche in Geltung steht, so seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Die Frage ist jetzt, gibt es Gruppen, die sagen, nee, wir haben nicht nur vier, sondern wir haben fünf, sechs, sieben, zehn. Oder gibt es sogar solche, die sagen, nee, nicht Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, sondern fünf andere. Das ist eine sehr schwer zu beantwortende Frage, weil es offenkundig ja so ist, dass diese Texte von Menschen genutzt werden. Zacharias Erzpresbyter, Zacharias Erzpriester, hat im fünften Jahrhundert eine ganz normale Bibel und liest dazu ein Marienevangelium. Also der nimmt es als eine interessante, anregende Schrift zusätzlich, aber nicht als eine Schrift, die kanonisch werden wollte und daran gescheitert ist. Ich definiere apokryphe Schriften immer so: Schriften, die entweder in die Bibel rein wollten oder so gemacht sind wie biblische Schriften oder von Figuren stammen oder Geschichten über Figuren enthalten, die auch in der Bibel vorkommen. Also das ist ein Text, der zu den Apokryphen gerechnet wird, aber bei dem man nicht sagen kann, das war eine Antibibel oder eine Gegenbibel.

00:32:28: Das Marienevangelium ist also ein Text aus dem Umfeld der Gnosis und aus dem Umfeld der Bibel. Zu beiden setzt er sich ins Verhältnis, grenzt sich aber auch ab. Das bringt uns jedoch noch immer nicht weiter, wenn wir wissen wollen, was für ein Text das Marienevangelium denn nun eigentlich ist. Wagen wir deshalb einen weiteren Vergleich – einen Vergleich mit den anderen Evangelien – um die Besonderheiten des Textes zu erfassen.

00:32:56: Die in den biblischen Kanon gekommenen vier Evangelien sind Biografien. Sind Biografien mit sehr langen Redeabschnitten, aber im Kern modelliert von dem Beginn eines Lebensweges bis zu seinem Ende und dem, was im Zusammenhang mit dem Ende passiert. So ist das Marienevangelium überhaupt nicht. Im Grunde muss man sagen, die meisten sogenannten apokryphen Evangelien konzentrieren sich auf diese kleine Phase zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt und sagen, wir haben zusätzliche Informationen da drüber, was Jesus von Nazareth gesagt hat. Sprachlich sind die Unterschiede schon die, dass man merkt, es sind spätere Texte. Also da findet wirklich Dialog statt. In den kanonisch gewordenen Evangelien wird nicht gut erzählt. Da steht: Jesus von Nazareth kam bei einem vorbei und sagte: „Folgt mir nach.“ Da ließ der alles stehen und ging los. Und da fragt man sich: Moment mal. Der saß an einem Zollhaus. Hat der seine Kasse stehen lassen oder hat er die Kasse einem anderen überreicht? Hat er sich schnell noch den Mantel von der Wand genommen?– Das wird alles in den kanonischen Evangelien überhaupt nicht erzählt, weil man merkt, das sind Leute, die nicht hauptberuflich Biografien geschrieben haben. Das ist beim Marienevangelium natürlich schon anders. Das ist in seinem dialogischen Rahmen wirklich schon schön dialogisch gestaltet. Also insofern kann man sagen, man merkt auch an dem sprachlichen Stil, dass das auf etwas reagiert und verbessert und sagt, ich kann es unterhaltsamer schreiben, als ihr das in den kanonischen Evangelien findet.

00:34:47: Ist der Schlüssel zum Verständnis dieser Textsorte ihre besondere Unterhaltsamkeit?

00:34:55: Jetzt gibt es die Möglichkeit, wenn mich in der Antike die Frage interessiert, was wird denn eigentlich mit der Materie? Dann kann ich nach Alexandria gehen und sagen, in den großen philosophischen Schulen, ich würde gern studieren. Und dann würde ich vermutlich einen maßgeblichen Platon-Text ausgelegt bekommen und mir gesagt werden, wo hat Materie angefangen und wann hat Materie geendet. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass ich einfach eine unterhaltsame Geschichte lese. Und in der Antike wird das ja von Christen geschrieben. Das heißt, es ist immer der Versuch, die Mittel der literarischen Unterhaltung der christlichen Verkündigung dienstbar zu machen. Die, die das Marienevangelium geschrieben hatten, haben Unterhaltung als ein bestimmtes Mittel für eine message verwendet. Nämlich für die message: Wir haben ein noch tieferes Verständnis von Christentum und das wollen wir euch jetzt mal auf eine angenehme, unterhaltsame, stilistisch auch gute Weise vermitteln. Ich möchte das immer so ein bisschen von der Vorstellung, da sind so kleine Häretiker-Gruppen und die haben so ein Gegenevangelium, wegziehen. Zacharias, der Erzpresbyter, ist ein ganz normaler in der ägyptischen Kirche stehender Erzpriester. Der liest gern solche Literatur und das hat dem offenbar Vergnügen gemacht. Also es ist Unterhaltungsliteratur über theologische Fragen, die sich gleichzeitig auch als Offenbarungsliteratur, als Mitteilung von wichtigen Geheimnissen, vorstellt. Das gehört aber auch so ein bisschen zum Unterhaltungscharakter: Hier ist etwas ganz Besonderes.

00:36:44: Sicher gehörte auch damals schon zur guten Unterhaltung nicht nur die Lebendigkeit des Dialogs, sondern auch der Konflikt:

00:36:55: Nachdem Maria diese Dinge gesagt hatte, schwieg sie, weil der Retter mit ihr bis zu dieser Stelle gesprochen hatte. Andreas aber antwortete und sprach zu den Geschwistern:

00:37:07: Sprecht aus das, was ihr über das, was sie gesagt hat, sagt. Denn ich glaube nicht, dass der Retter diese Dinge gesagt hat. Denn in der Tat sind diese Dinge von anderem Denken.

00:37:23: Petrus antwortete und sprach über die Dinge von dieser Art. Er fragte sie wegen des Retters:

00:37:30: Hat er etwa mit einer Frau heimlich gesprochen und nicht öffentlich zu uns? Sollen wir uns auch umkehren und alle auf sie hören? Hat er sie mehr als uns erwählt?

00:37:41: Dann weinte Maria und sprach zu Petrus:

00:37:46: Mein Bruder, Petrus, was denkst du? Denkst du, dass ich mir diese Dinge allein in meinem Herzen ausgedacht habe oder, dass ich über den Retter lüge?

00:38:00: Levi antwortete und sprach zu Petrus:

00:38:04: Petrus, schon immer bist du eine zornerfüllte Person. Nun sehe ich dich, wie du mit der Frau diskutierst wie die Widersacher. Wenn der Retter aber sie würdig gemacht hat, wer bist aber du, sie zu verwerfen? Sicherlich kennt der Retter sie ganz genau, deshalb liebte er sie mehr als uns.

00:38:26: Nach dem Angriff von Petrus und Andreas eilt Levi quasi zur Rettung der Maria, die selber eher passiv an dieser Stelle wirkt, und hebt auf die besondere Beziehung zwischen dem Erlöser und Maria ab, um zu begründen, dass man an Marias Worten nicht zu zweifeln habe. Er wiederholt dabei eine Formulierung, die Petrus ganz ähnlich schon vorher geäußert hat und sagt hier, dass der Erlöser Maria nicht nur mehr liebte als alle Frauen – das war das, was Petrus gesagt hatte – sondern noch mehr liebte als alle anderen. Also er hebt sie sogar nochmal über die gesamte Gruppe der Jünger und Jüngerinnen.

00:39:10: Petrus geht Maria hier sehr aggressiv an. Typisch Petrus, könnte man sagen. Bei den Figuren aus dem Erzählkreis der Evangelien des Neuen Testaments handelt es sich um Typisierungen. In Kirchen und Museen beispielsweise werden die Apostel mit den Attributen dargestellt, die für sie kennzeichnend sind: Paulus trägt ein Schwert, Petrus den Schlüssel. Darüber hinaus werden ihnen auch feste Charaktereigenschaften zugeschrieben, die im frühen Christentum allgemein bekannt sind. Eigenschaften, die die Figuren in einer apokryphen Erzählung selbstverständlich mitbringen, auf die dort aufgebaut wird und die weiter ausgeschmückt werden.

00:39:51: Also Petrus kommt nicht nur in den kanonischen Evangelien vor, sondern auch in vielen apokryphen Texten. Schon in den kanonischen Evangelien hat Petrus so ein bisschen den Ruf weg, nicht erst zu denken, bevor er spricht, und gerne mal sehr emotional auf Anwürfe zu reagieren. Das ist auch so ein bisschen die Rolle, die er im Evangelium nach Maria bekommt.

00:40:16: Und Maria Magdalena gerät in verschiedenen Texten – mal mehr, mal weniger – mit Petrus in Konflikt.

00:40:24: Also Petrus und Maria werden in apokryphen Texten gerne als Stellvertreter für diesen Konflikt „Mann – Frau“ innerhalb christlicher Gemeinden verwendet. Wobei bei manchen Texten schon nicht immer ganz klar ist, ob es nicht tatsächlich nur um Maria geht, also dass sie nur Maria eigentlich stört und die besondere Rolle von Maria, oder ob es um generell alle Frauen geht.

00:40:47: In der Bibel taucht Maria Magdalena als Anhängerin Jesu in allen vier Evangelien auf. Ihre Rolle ist aber im Wesentlichen auf die Auferstehungsberichte reduziert: Sie gehört zu den Frauen, die das leere Grab entdecken.

00:41:03: Und in manchen Fällen ist Maria diejenige, die als Erstes Jesus Christus, also dem Auferstandenen, begegnet. Das ist zum Beispiel im Johannesevangelium so. Es gibt auch andere Berichte, zum Beispiel bei Paulus. Paulus berichtet, dass Petrus der Erste ist, der den Auferstandenen sieht. Also auch hier haben wir quasi wieder diesen Konflikt, wer ist eigentlich der*die erste Person, die den Auferstandenen zu Gesicht bekommt. Ansonsten spielt Maria Magdalena in den biblischen Texten quasi keine Rolle. Sie kommt nicht vor, wie insgesamt nicht sehr viele Frauen vorkommen. Was nicht bedeutet, dass es keine Frauen unter den Leuten, die mit Jesus Christus durch die Gegend gezogen sind, gegeben hat, sondern einfach, dass nicht von ihnen berichtet wird. Wir wissen ziemlich sicher, dass Jesus Christus, als er mit seinen Jüngern durch das Land gezogen ist, Unterstützung von auch reichen Frauen bekommen hat. Maria ist sehr viel stärker vertreten in den apokryphen Schriften und kommt da in einer Reihe von apokryphen Schriften vor.

00:42:15: Die Figur der Maria Magdalena wird um so facettenreicher, je mehr apokryphe Schriften man hinzuzieht – beispielsweise die sich ebenfalls im Berliner Codex befindliche Sophia Jesu Christi:

00:42:30: Erstmal wird Maria häufig als Vorsteherin quasi der Frauen, einer Frauengruppe von Jüngerinnen vorgestellt, zum Beispiel in der Sophia Jesu Christi. Da ist explizit davon die Rede, dass die zwölf Jünger und Jüngerinnen eine gemischte Gruppe ist. Also nicht zwölf Männer plus irgendwie Frauen, was in anderen Texten zum Beispiel auch vorkommt. In der Sophia Jesu Christi gibt es Männer und Frauen, die zusammen die Zwölfergruppe bilden. Und Maria ist diejenige, die den Frauen quasi vorsteht, vergleichbar wie Petrus, der den Männern vorsteht. Das ist eine Funktion. Die andere wäre, dass Maria häufig als neugierige Fragenstellerin auftritt. Als eine, die unglaublich viele Redebeiträge hat im Vergleich zu anderen Jüngern und Jüngerinnen. Sie erweist sich als jemand, der besonders hohes Verständnis hat, und wird auch dementsprechend gelobt von Jesus Christus. Also sie steht als Figur besonderer Erkenntnis oft in Texten apokryphen Charakters.

00:43:33: Wie nah stand Maria Magdalena Jesus denn nun? Waren sie ein Paar? Auf dieser Annahme bauen sowohl populärwissenschaftliche Literatur als auch moderne Jesus-Romane oder gar Verschwörungstheorien auf. Dabei stützen sie sich hauptsächlich auf eben jenen Satz von Levi:

00:43:54: Sicherlich kennt der Retter sie ganz genau, deshalb liebte er sie mehr als uns.

00:43:59: Verband Maria Magdalena und Jesus tatsächlich so etwas wie eine romantische Liebesgeschichte?

00:44:07: Erstmal muss ich jetzt, glaube ich, was sehr Desillusionierendes sagen. Jesus von Nazareth ist Asket. Der gründet keine Familie. Das ist so mit das Desaströseste, was ein junger jüdischer Mann seiner Zeit tun kann. Er erlernt keinen richtigen Beruf und übt ihn auch nicht aus, das ist noch desaströser. Also dieser Mensch liebt es, in der Gegend umherzuziehen, ohne festen Wohnsitz, ohne festen Beruf, abhängig von Unterstützern. Dass der besonderes Interesse an Wein, Weib und Gesang hatte, wird man eher nicht sagen können. Insofern empfinde ich die ganzen Grübeleien über Maria Magdalena immer als den Teil eines Versuches, den wir ganz viel erkennen können. Jesus von Nazareth ist verstörend anders, wir hätten den gern aber auf dem Sofa sitzend.

00:45:12: Ist der Karottenkuchen nicht fabelhaft dekoriert? Finden Sie nicht auch, sieht doch verlockend aus?

00:45:21: Ja. Nun, greifen Sie doch zu, junger Mann.

00:45:27: Wenn dich dein Auge vom Himmelreich abringt, dann reiße es aus.

00:45:32: Ach!

00:45:35: Wir hätten den gern aber auf dem Sofa sitzend. Also als den Vorfahren all der Orientierungen, die uns auch wichtig sind. Jesus von Nazareth ist umweltbewusst. Jesus von Nazareth ist gegen autoritäre Herrschaft. Jesus von Nazareth hat einen super Umgang auch mit Frauen. Also sozusagen der Jesus von Nazareth, der neben uns auf dem Sofa Platz nimmt und da auch nicht wesentlich stört, weil er im Grunde alle die Ideale absegnet, die wir auch haben im partnerschaftlichen Umgang mit anderen Menschen und so weiter und so fort.

00:46:10: Jaaa, trotzdem schön, dass Sie zu uns zu Besuch gekommen sind, Herr Jesus – ganz vorbildlich auf dem Fahrrad, nicht?

00:46:17: Ja, toll. Wir radeln auch gerne … wenn es sich ergibt.

00:46:23: Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.

00:46:33: Also jemand, der sagt: „Wenn dich dein Auge vom Himmelreich abbringt, dann reiß es aus“, ist jemand, der glaube ich eine unglaubliche Radikalität gleichzeitig auch hat. Also insofern erste Beobachtung: Der historische Jesus hatte vermutlich kein Techtelmechtel mit Maria Magdalena. Jedenfalls wenn das, was wir aus den Evangelien über ihn wissen, stimmt, ist das eher ein asexueller Mensch. So redet er auch. So, das ist natürlich nicht erst seit dem zwanzigsten Jahrhundert irgendwie irritierend. Und ich finde der Satz aus dem Marienevangelium hat so eine wunderbar schillernde Funktion. Also so ist es ja auch elegant. Also man deutet Sachen so an, dass unklar ist, was damit jetzt eigentlich genau gesagt wurde. „Er hatte sie mehr lieb als alle anderen.“ – War das jetzt eine erotische Liebe? Hatte sie erotische Dimensionen? Also natürlich, man merkt ja, der Text kann nicht sehr viel mit Materialität anfangen und möchte eigentlich, dass man aus dem Bereich der Leidenschaften wieder rauskommt. Also kann man insofern schon sagen, es ist in keinem Fall eine leidenschaftliche Liebe in dem Motto, dass man sich selber und seinen Nus, seinen Verstand, vergisst. Das will dieser Text nicht.

00:47:59: Als Werk der theologisch-philosophischen Unterhaltungsliteratur enthält das Marienevangelium zwar nicht besonders viel crime, aber vielleicht doch eine Andeutung von sex. Inwiefern unterscheidet sich dieser unterhaltsame Umgang mit christlichen Narrativen dennoch grundsätzlich von moderneren Ausdeutungen der Konstellation Jesus Christus und Maria Magdalena? In Nikos Kazantzakis Jesus-Roman „Die letzte Versuchung“ aus dem Jahre 1951 wird das sehr spezielle Verhältnis von Jesus und Maria Magdalena facettenreich entfaltet und beinhaltet nicht zuletzt die gemeinsame Gründung einer Familie. Bekannter ist dieser Stoff durch die Verfilmung „The Last Temptation of Christ“ aus dem Jahre 1988 durch Martin Scorsese. Dan Browns „Da Vinci Code“ ist gewissermaßen – zumindest was den kommerziellen Erfolg angeht – der Gipfel der popkulturellen Aneignung des scheinbar im Evangelium angelegten Konflikts zwischen einem übermächtigen patriarchal geprägten Erbe, welches die katholische Kirche hütet, und einer vermeintlich unterdrückten weiblichen Überlieferungslinie. In den letzten Jahren sind gleich mehrere Filme erschienen, die Maria Magdalena in unterschiedlicher Weise als wichtige Anhängerin Christi in den Vordergrund rücken. Jede Generation scheint die Figuren und ihre Beziehung zueinander den eigenen Wünschen und Bedürfnissen gemäß zu aktualisieren.

00:49:33: Wenn man vergleicht das Marienevangelium mit irgendeiner gegenwärtigen literarischen oder aus dem Bereich der Unterhaltungsmedien stammenden Bearbeitung, gibt es Gemeinsamkeiten aber auch Unterschiede. Ich entsinne mich an diesen berühmten Dan Brown und die Frage, wie ist das mit Maria Magdalena und der Jesusfamilie und so weiter und so fort. Also ein antiker Christenmensch, Mann oder Frau, die so ein Evangelium schreibt, hat eine Bremse der eigenen Fantasie. Die Fantasie ist zu einem bestimmten Ziel verwendet. Dan Brown setzt ja unglaubliche Fantasie frei. Da kam ja vor, dass man in der Pariser Kirche Saint-Sulpice den Erdboden aufhacken musste, um irgendwo ranzukommen, und dann musste in Saint-Sulpice so ein Schild hingestellt werden: Bitte sehen Sie davon ab, den Fußboden hier aufzuhacken – das war nur Fiktion, reine Fantasie. Also sozusagen die Fantasie ist so unkontrolliert und so mächtig und so genial inszeniert, dass die Leute die Grenze zwischen Realität und Fantasie völlig vergessen. Das ist erkennbar nicht der Fall beim Marienevangelium, sonst hätte es nicht ein Erzpresbyter in seiner Bibliothek gehabt.

00:50:54: Also bewegt sich diese Art von Unterhaltungsliteratur in einem deutlich anderen Rahmen. In einem Rahmen, der uns zunächst fremd ist und der uns auch teilweise fremd bleiben muss. Wie zum Beispiel die Auffassung von Sexualität in der antiken Medizin auch von unserem heutigen Verständnis abweicht.

00:51:14: Nicht, weil … die antike Vorstellung ist, dass Sexualität deswegen gesundheitlich ganz problematisch ist, weil sie zu starker Erhitzung führt. Und die Grundvorstellung aller antiker Medizin und auch der Halbbildung ist, möglichst gemäßigte Temperaturen. Weder Abkühlen, dann gibt es Schnupfen, und auch nicht erhitzen, dann verkochen die Organe – schlecht. Deswegen auch die Polemik in dem Text gegen Zorn. Das ja auch Erhitzung. Also ich muss in jedem Fall das Steigern der Körpertemperatur vermeiden. Und das tue ich, indem ich alle Leidenschaften mir abtrainiere. Da muss man relativ nüchtern sagen, das wird man überhaupt gar nicht mehr verstehen können, weil sich ja grundsätzlich alle Grundvorstellungen geändert haben. Also niemand würde ja in ein Fitnesscenter gehen, wenn er der Auffassung wäre, die kurzfristige Erhitzung sei gesundheitsschädlich. Im Gegenteil, wir sind der Auffassung, das ist von Zeit zu Zeit besonders gut. Also da haben sich einfach … aber die naturwissenschaftlichen Paradigmen, was ich jetzt gerade erzählt habe über die Erhitzung, ist antike Medizin, das ist Wissenschaft, auch wenn es für uns heute nach Halbbildung klingt.

00:52:24: Akzeptieren wir, dass es vermutlich keine Liebschaft zwischen Maria Magdalena und Jesus von Nazareth gab. Aber: Unabhängig von der Qualität ihrer Beziehung ist der im Marienevangelium angelegte Konflikt zwischen den Geschlechtern unmittelbar greifbar. Ist Maria Magdalena eigentlich eine Ausnahmeerscheinung? Oder haben Frauen in den frühchristlichen Gemeinden häufiger herausragende Positionen inne?

00:52:51: Aus der ganz frühen Zeit wird eigentlich die Rolle der Frau sehr, sehr wenig thematisiert. Das kann natürlich einfach sein, weil wir so wenig Texte aus dieser Zeit überliefert haben. Also es gibt insgesamt wenig von Frauen geschriebene Texte, die überliefert sind. Und wenn es welche gibt, sind die eher spät. Das liegt auch daran, dass Frauen natürlich weniger Zugang zu Bildung in der Zeit haben und nicht unbedingt schreiben können. Das ist eine patriarchalische Gesellschaft in der Antike. Die Position der Frau ist für die meisten dort relativ eindeutig – untergeordnet – und auch nur auf bestimmte Bereiche beschränkt.

00:53:29: Also es gibt einzelne christliche Regionen und Gruppen, in denen Frauen mehr zu sagen haben. Das ist aber überhaupt wie in der Antike: Also ganz viele Philosophen sind Männer, aber Hypatia war eine außerordentlich prominente Philosophin. Also Antike darf man sich nicht vorstellen als eine uniformierte Kultur, sondern als eine Kultur, in der … Frauen konnten zum Beispiel innerhalb eines Haushaltes relativ frei schalten und walten. Und wenn wir uns jetzt vorstellen, das ist ein sehr, sehr reicher Haushalt, der nebenbei noch eine kleine Universität hat, eine Stiftungsuniversität, mit einer großen Firma. Also es gibt außerordentlich souverän agierende Frauen.

00:54:18: Man könnte diese Frage anschließen, inwiefern ist Jesus Christus vielleicht liberaler als seine Umwelt? Es gibt sicherlich auch Passagen in den biblischen Texten, wo klar wird, dass vielleicht für Jesus Christus Geschlecht nicht das wichtige Kriterium ist für, wer kann erlöst werden, wer kann irgendwie am christlichen Glauben teilhaben oder nicht. Aber auch er hat sich da, zumindest so wie es die Texte sagen, nicht hingestellt und gesagt, wir müssen jetzt hier alle patriarchalen Systeme über Bord werfen und alle hier gleichstellen.

00:54:54: Es gibt bestimmte Elemente, da ist Jesus von Nazareth im Umgang mit Männern und Frauen liberaler als seine Umgebung. Beispielsweise in der Geschichte von der Frage: Soll man ehebrecherische Personen steinigen? Nicht, dieser großartige Satz: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“ Und das wird nicht ohne Zufall an einer Frau expliziert. Aber auf der anderen Seite muss man auch sagen, also, der tritt auch nicht an zur Revolution der Geschlechterverhältnisse.

00:55:42: Es ist natürlich verführerisch quasi Lücken zu füllen mit dem, was meine Vorstellung über Antike ist, die natürlich beeinflusst ist von dem, was ich selbst an Idealen habe. Also ich bin mir bewusst, dass ich verhaftet bin in meiner eigenen Zeit und meinen eigenen Vorannahmen über bestimmte Dinge. Und mein Weg ist eigentlich immer zu versuchen, das möglichst zurückzunehmen und so nah wie möglich an den Texten zu bleiben und offen zu sein, auch andere Interpretationen wahrzunehmen.

00:56:15: Ich finde immer, man muss als Historiker … darf man sich die Vergangenheit auch nicht schön anstreichen. Also die saßen eben in der Antike im Zirkus und haben sich daran aufgegeilt, wenn Leute vom Bären aufgefressen wurden. Also sozusagen die bleiben fremd. Die sind, wie ich gesagt habe, nicht dazu geeignet, auf dem Wohnzimmersofa Platz zu nehmen und nicht zu stören. Die sind anders. Und die werden wir nicht dahin kriegen, dass sie die von uns mit guten Gründen für angemessen gehaltenen Geschlechterverhältnisse noch absegnen. Also sozusagen dafür müssen wir selber geradestehen.

00:57:02: Ich glaube, es ist grundsätzlich schwierig von antiken Texten, die in einer ganz anderen Zeit geschrieben wurden, als in der Zeit, die wir heute leben, Handlungsmaxime für heute zu formulieren. Ich finde, wenn wir heute argumentieren wollen, dass Frauen in der katholischen Kirche ordiniert werden können, dann sollten wir das auf Basis unserer heutigen Werte machen und nicht irgendwelcher antiker Werte.

00:57:31: Das war unsere Folge „Das Marienevangelium“. Eine Seite des Evangeliums können Sie sich übrigens in der Dauerausstellung des Ägyptischen Museums in Berlin ansehen.

00:57:42: Wir bedanken uns bei Jacquline Wormstädt und Christoph Markschies.

00:57:46: Pete oun maatsche m-mof e-sotm maref-sotm.

00:57:53: Der der Ohren hat zu Hören, möge hören.

00:57:57: Und bleiben Sie in Bewegung.

00:58:04: Das war „Das Marienevangelium“ aus der Reihe Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Eine Produktion des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Christoph Markschies und Jacquline Wormstädt. Außerdem mit Myriam Krutzsch. Stimmen: Friederike Kroitzsch, Alexander Bandilla, Matthias Dittmer, Selda Kaya, Matthias Kelle, Katharina Kwaschik und Frank Riede. Diese Folge ist in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.