Hinter den Dingen

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00:00:01: Ein barockes Gemälde führt uns heute aus der Wüste des biblischen Jakob an die flirrende, unscharfe Grenze zwischen Traum und Realität hinein in die Gedankenwelten mittelalterlicher Philosophie. Wie viel Wahrheit steckt in einem Traum? Was weckt in Zeiten der größten Krise neue Hoffnung? Und – was ist denn da bei CNN los?

00:00:48: Guten Tag. Ich bin Sophie Ruch, und bei mir sind vom Sonderforschungsbereich „Episteme in Bewegung“ der Freien Universität Berlin die Philosophin Anne Eusterschulte …

00:00:59: Schönen guten Tag!

00:01:01: … und die Judaistin Hanna Zoe Trauer.

00:01:04: Hallo!

00:01:05: Und Sie hören: (Jingle) Hinter den Dingen. 5.000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören „Engel auf der Leiter, oder: Wie im Traum das Wissen vom Himmel fällt.“ Anne Eusterschulte und Hanna Zoe Trauer untersuchen, was für eine besondere Form von Wissen sich in Träumen, in visionären Erfahrungen oder Prophezeiungen mitteilt. Ist das überhaupt Wissen? In mittelalterlichen Kontexten wurde darüber intensiv diskutiert. Hier setzen die beiden Forscherinnen an und fragen, wie sich das sprachlich, künstlerisch oder philosophisch ausdrückt. Eines ihrer Forschungsobjekte, das veranschaulicht, wie im Traum Wissen vermittelt wird, ist das Gemälde …

00:01:58: … eines barocken Malers, das im Bode-Museum zu Berlin zu betrachten ist.

00:02:03: Der Maler Michael Willmann lebte von 1630 bis 1706. Das Bild, über das wir heute reden, trägt den Titel Landschaft mit dem Traum Jakobs und entstand vermutlich um das Jahr 1691.

00:02:17: Es zeigt eine Leiter, die von der Erde in den Himmel reicht. Auf ihr steigen Engel auf und ab. Wir sehen die sogenannte Jakobsleiter. Sie ist Teil des biblischen Traumes, in dem der schlafende Jakob eine Botschaft von Gott, eine Weisung für die Zukunft erhält. Doch dieses ‚Wissen‘ ist deutungsbedürftig. Es wirft eine Reihe von Fragen auf.

00:02:39: Welchen Status haben Träume? Sind Träume Halluzinationen, Wahnvorstellungen? Oder sind Träume ein Medium des Schlafenden, Vorstellenden, innerhalb dessen sich Wissenserfahrungen, Offenbarungserfahrungen, also etwas mitteilt, was eine höhere Gewissheit beanspruchen kann. Wir selber kennen das aus unseren Traumsituationen: Wir wachen morgens auf, wissen gar nicht so recht, ist das wahr gewesen, ist das geschehen, bin ich einer trügerischen Vorstellung erlegen, und brauchen vielleicht einen Moment, um zu vergegenwärtigen, in welcher Welt wir gerade stehen. Diese Zwischensituation, diese Art von Schwellensituation, die dazu aufruft, sofort niederzuschreiben oder zu erzählen, was wir geträumt haben, ist etwas, was in mittelalterlichen Auseinandersetzungen mit dieser speziellen Form des Wissens für uns besonders wichtig wird. 

00:03:32: Bei Willmanns Jakobsleiter handelt es sich um einen gemalten Traum. Wir sehen den Schlafenden und gleichzeitig das, was er innerlich sieht. Schauen wir uns das Gemälde einmal näher an:

00:03:51: Es zeigt eine barocke, sehr bewegte, satte Landschaft mit einem Bach. Im Bildvordergrund ist sie dunkel, fast ein wenig unheimlich und bizarr, gerahmt von hoch aufschießenden Baumgruppen. Wir sehen geradezu, wie der Wind in die Äste und das Blattwerk fährt, wie sie sich rauschend bewegen und Schatten werfen auf eine Landschaft, die sich zwischen diesem Blättergewölk im Bildhintergrund öffnet. Wir blicken wie durch ein Tor in die weite Landschaft. In der Ferne wird es heller. Im Vordergrund, rechts unten, liegt der schlafende Jakob, den Kopf auf einen Stein gebettet. Von ihm ragt diagonal eine Leiter in den Himmel – von rechts unten nach links oben – auf der Engel auf- und absteigen. Die Leiter führt hinauf in himmlische Regionen, durch die Wolken, wo es immer heller wird. Sie geht schließlich in einer Lichtfläche auf, wo sich ganz vage und nur in Umrissen erahnen lässt, dass Gott sich dem Träumenden zeigt.

00:05:10: Jakob, der in einer Landschaft schläft, mit dem Kopf auf einem Stein. Was hat ihn dort hingeführt? Wieso ist er allein unterwegs? Werfen wir einen Blick auf die biblische Geschichte aus dem 1. Buch Mose.

00:05:27: Die Bibel erzählt die Geschichte von Jakob und seinem Bruder Esau. Jakob, der Jüngere von beiden, erschleicht sich durch einen Trick den Segen des Vaters, der eigentlich dem Älteren, Esau, gegolten hätte. Und als dieser Betrug auffliegt, muss Jakob fliehen, weil er fürchtet, dass der Bruder ihn umbringen könnte. Er flieht deswegen zu seinem Onkel, macht sich alleine auf durch die Wüste und befindet sich eigentlich in einer ganz fundamentalen Krisensituation: Er muss alles zurücklassen, was ihm lieb und teuer ist. Er weiß nicht, ob er je zu seiner Familie zurückkehren kann und wann er zu seiner Familie zurückkehren kann. Und er weiß auch im Grunde eigentlich nicht, ob es für ihn überhaupt noch irgendeine Zukunft gibt und ob er noch Gottes Beistand hat. Und dann geht die Sonne unter, und es wird auch noch Nacht. Jakob sucht sich noch einen Stein, auf den er seinen Kopf legen kann, um zu schlafen, und in dieser verzweifelten Situation hat er dann den folgenden Traum.

00:06:26: Und er träumte, und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze reichte zum Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder. Und siehe, der Herr stand darauf und sprach: Ich bin der Herr, der Gott Abrahams, Deines Vaters und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem Du liegst, werde ich Dir geben und Deinem Samen. Und Dein Samen wird sein wie der Staub der Erde, und Du wirst Dich ausbreiten gen Abend und Morgen, Mitternacht und Mittag, und es werden gesegnet durch Dich und Deinen Samen alle Geschlechter der Erde. Und siehe, ich bin mit Dir, und werde Dich behüten, wohin Du auch gehst, und werde Dich zurückbringen in dieses Land, denn ich werde Dich nicht verlassen, bis dass ich getan habe, was ich Dir gesagt habe.

00:07:16: In dieser Situation der Krise und der Verzweiflung verspricht Gott Jakob also, dass er ihn zurückschicken wird dahin, wo er hergekommen ist, und dass er auf ihn aufpassen wird, während er in der Fremde weilen muss. Nachdem Jakob aufwacht, versteht er sofort, dass sein Traum eine größere Bedeutung hatte. Er sagt: Hier ist das Haus Gottes, hier ist das Tor zum Himmel. Und er stellt diesen Stein, auf den er seinen Kopf gelegt hatte, als Denkmal auf, um diese Stelle zu markieren. Und das Versprechen, das Gott ihm in dieser Krisensituation gegeben hat, dass er viele Nachfahren haben wird, dass sie gesegnet sein werden, und dass sie auch genau dorthin, in dieses Land, zurückkommen werden, bekommt dann eben auch insofern institutionelle Bedeutung, als Jakob der Vater von 12 Söhnen werden wird, die die 12 Stämme Israel repräsentieren. Das heißt, dieser Traum und das Versprechen, das Gott ihm im Traum gegeben hat, wird zur Legitimation für die Israeliten, für die 12 Stämme Israels und dafür, dass sie von Gott gesegnet sind.

00:08:19: Halten wir fest: Mit dem Traum des Jakob wird gewissermaßen im wahrsten Sinne des Wortes – so auch im Gemälde zu sehen – ein Grundstein gelegt für die Begründung einer Institution, die dann im Juden- und Christentum eine große Bedeutung gewinnt. Entscheidend wird nun aber die Frage, welche Gewissheit genau diese Traumoffenbarung gewinnen kann. Wie lässt sich die Offenbarung Gottes an Jakob und damit der Anspruch an die Begründung einer Institution bewahrheiten? Man kann hier deutlich sehen, dass gerade der Traum die Scharnierstelle wird, an der ein Wissensanspruch und damit die Geltung dessen, was Gott an Jakob offenbart, quer zu den Religionen und Traditionen zu einem Grundproblem wird: Welche Berechtigung hat Traumwissen? Welche höhere Quelle bringt sich hier zu Geltung? Und welche wissenschaftlichen Grundlegungen müssen herbeigeführt werden, um das zu bestätigen? An dieser Stelle greifen philosophische vor allen Dingen pagane Traditionen ein, um zu klären, welchen Status Wissen, das im Traume erfahren wird, erlangen kann.

00:09:46: Der Blick fällt zuerst auf etwas Rotes. Jakob hat sich am Ufer des Baches in ein leuchtend rotes Tuch oder einen Mantel gewickelt. Er sieht aus wie ein antiker Streiter oder ein Wanderer. Ein langer Stab liegt neben ihm. Jakobs Kopf ist uns zugewandt. Sein Gesicht ist nur schemenhaft zu erkennen. Vor ihm liegt ein Hund, zusammengekauert wie der Schlafende auch.

00:10:11: Ist das überhaupt ein Hund? Was siehst Du?

00:10:13: Es könnten eben auch zwei Steine sein.

00:10:16: Ich denke aber doch, es ist ein Hund, denn man sieht ja, wie Jakob hier seinen Kopf auf einen Felsblock legt, und vor diesem Felsblock, in sich verschlungen, angeschmiegt, doch ein Tier, wie ein Hund.

00:10:30: Ich hatte an mehrere Steine gedacht, weil es schon in der frühen jüdischen rabbinischen Literatur die Geschichte gibt, dass Jakob nicht einen Stein, sondern mehrere Steine – genauer genommen 12 Steine – unter seinen Kopf gelegt hatte. Und als er aufwachte, waren alle Steine nur noch ein Stein.

00:10:47: Ihr merkt schon, bei aller Begeisterung für die Theologie muss das Pagane mit hinein, was im Barock eine große Rolle spielt …

00:10:54: Ja.

00:10:54: … und der Hund ist eben auch immer Zerberus, der Höllenhund, zwischen dem Reich der Toten und dem Reich der Lebenden, das ist wichtig, das ist nämlich auch die Welt der Schemen …

00:11:04: Wie wir hören, kann man über jedes Detail des Gemäldes diskutieren. Jeder Aspekt kann ausgedeutet werden, so wie auch jeder Traum eine Interpretation fordert. Doch ganz allgemein halten wir fest, dass hier eine wichtige Offenbarung in einem Traum kommuniziert wird. Kann Geträumtes als wahr betrachtet werden?

00:11:28: Jakobs Traum ist ja letztlich für uns auch nur eins von vielen Beispielen für genau diese Problematik. Jakob ist eben darauf angewiesen zu begründen, dass dieser Traum nicht nur ein Hirngespinst, oder nicht nur ein Fiebertraum war, sondern dass das, was ihm im Traum passiert ist, wirklich auch Anspruch darauf hat ernst genommen zu werden.

00:11:49: Es steht also einiges auf dem Spiel: Ist der Stein, auf dem Jakob schläft, der Gründungsstein Israels? Sind die 12 Söhne Jakobs die Stammesväter der 12 Stämme des Volkes? Beides hängt ganz davon ab, ob es gelingt, die Wahrhaftigkeit des Geträumten zu begründen. Die Frage danach, welchen Status Träume haben, beschäftigt die Menschen immer wieder.

00:12:16: Träume erlauben, erfordern, evozieren gewissermaßen Deutung, Interpretation, weitgehende Spekulationen. Bereits in antiken Kontexten, aber dann vor allen Dingen in den für uns relevanten mittelalterlichen Debatten werden deshalb sogenannte Traumbücher besonders wichtig. Bücher, in denen einzelne Träume aufgezeichnet werden, aber auch Überlegungen oder gar Anleitungen zur Auslegung solcher Traumszenerien und Sequenzen. Gleichsam ein Freud avant la lettre. Neben solchen Traumbüchern und der Tatsache, dass Träume, Weissagungen, Orakel, Sehertum stets auslegungsbedürftig ist, können wir auf Traumtheorien verweisen. Schriften also, die versuchen, mit wissenschaftlichen Mitteln zu zeigen, dass Träume und Traumerfahrungen und das, was uns in Träumen gegenwärtig wird, keineswegs Spuk oder individuelle Einbildung ist, sondern oftmals der Zugang zu höheren, gleichsam göttlichen Wissensquellen.

00:13:27: So die Traumtheorie des Synesius von Kyrene, die etwa 400 nach Chr. entstand.

00:13:43: Sehen wir doch Farben, hören Geräusche und haben die deutlichste Vorstellung von Gefühl, ohne dass die körperlichen Organe in Tätigkeit sind, und wer weiß, ob nicht diese Wahrnehmung höher erachtet werden muß. Denn wir kommen mittels ihrer häufig mit Göttern zusammen, die uns warnen, prophezeien oder sonst wie über die Zukunft aufklären.

00:14:11: Synesius von Kyrene stellt fest, dass wir auch im Traum, also wenn wir schlafen, Wahrnehmungen haben. Gemeint sind innere, sinnliche Vorstellungen. Das ist erstaunlich, denn die Sinnesorgane sind ja gar nicht beteiligt. Im Schlaf haben wir die Augen geschlossen. Und trotzdem sehen wir etwas. Weil diese innere Wahrnehmung so intensiv ist, glaubt der Philosoph, dass die Seele auf diese Weise empfänglich für die Götter und für ihre Botschaften ist.

00:14:44: Es gibt allerdings auch Gegner dieser Position. So war beispielsweise der bekannte griechische Philosoph, Aristoteles, gerade nicht der Meinung, dass Gott oder sonst ein höheres Wesen der Sender dieser Träume sein könnte.

00:14:59: Denn dass ein Gott der Sendende (solcher Träume) sei – abgesehen von der Implausibilität, die überhaupt (mit dem Gedanken) verbunden ist –, ist in Kombination damit, dass er die Träume nicht den Besten und Vernünftigsten, sondern den gewöhnlichen Menschen sende, völlig gegen die Erwartung.

00:15:18: Er hält es nicht für wahrscheinlich, dass die Träume von Gott gesendet werden, u.a. weil sie ja nicht gerade den vernünftigsten Menschen oder nicht nur den vernünftigsten Menschen gesendet werden, sondern allen Menschen, und sogar den Tieren.

00:15:32: Außerdem haben offenbar nicht nur die Menschen Träume, sondern auch Pferde, Hunde, Rinder, desgleichen Schafe und Ziegen und überhaupt alle lebendiggebärenden Vierfüßer; namentlich geben dies die Hunde durch das Bellen zu erkennen.

00:15:50: Wenn die Träume von Gott gesendet werden, was sollten das dann für Träume sein, die die Hunde haben? Und warum sollte Gott den Hunden Träume senden? Für Aristoteles sind Träume also ein natürliches Phänomen, gerade weil sie auch bei den Tieren oder bei unvernünftigen Menschen vorkommen, und sind insofern keine Prophezeiungen und haben auch nicht den gleichen Wahrheitsanspruch. Wenn wir etwas träumen, was später in Erfüllung geht, dann ist das aus seiner Sicht eher Zufall.

00:16:17: Wenn wir Synesius von Kyrene folgen, dann ließe sich Jakobs Traum als Offenbarung anerkennen. Wenn aber nicht – wenn wir uns also Aristoteles anschließen –, dann wäre Jakobs Traum wie zu deuten?

00:16:32: Aristoteles‘ Ablehnung der göttlichen Träume, und seine natürliche Erklärung für die Träume, hätte natürlich große Implikationen für die Geschichte von Jakobs Traum. Man würde dann vielleicht sagen, es ist einfach ein zufälliger Traum gewesen, oder er hat vorher viel gegessen und deswegen intensive Träume gehabt, jedenfalls könnte er auf diesen Traum nicht die Gründung eines ganzen Volkes und die Grundsteinlegung an der Stelle des Traumes gründen.

00:17:04: Einmal abgesehen davon, dass über die Traumfähigkeit von Hunden noch zu diskutieren wäre, ist vielleicht eine Besonderheit der geistesgeschichtlichen, philosophiehistorischen Auseinandersetzung, dass Aristoteles’ Versuch, Träume zu naturalisieren und damit so etwas wie höhere Wesen, Sehertum, göttlichen Einfluss zu eliminieren, nicht unbeantwortet stehen bleibt. Gerade die aristotelische Tradition im mittelalterlichen Kontext zeigt auf überraschende Weise, wie eine Umdeutung aristotelischer Schriften, der Einfluss von Platonismen und Neuplatonismen, aber gerade die arabischen Übersetzungen aristotelischer Texte, die Offenbarungsquelle Gott oder eine höhere Instanz wieder zur Geltung bringen und den Versuch den Traum auf rein physiologische Körperrestbewegungen zurückzuführen, ausbremsen.

00:18:07: Aristoteles war also bei weitem nicht der Einzige, der sich Gedanken über die mögliche Bedeutung von Träumen gemacht hat. Während für ihn – etwas salopp gesagt – Jakob lediglich schlecht gegessen hat und darauf dann eine Religion begründen will, kamen viele mittelalterliche Philosophen zu ganz anderen Schlüssen. Viele schrieben den Träumen eine viel größere Bedeutung zu. Sie gingen – häufig durch Rückgriff auf den Philosophen Platon oder andere antike Quellen – davon aus, dass gewisse Träume durchaus einen Wahrheitsgehalt haben. Zu ihnen gehört auch der persische Philosoph Ibn Sina, auch bekannt als Avicenna. Doch wie kam es dazu, dass er sich im 11. Jahrhundert explizit auf Aristoteles bezog, obwohl er gerade das Gegenteil von dem vertrat, was Aristoteles über die Träume geschrieben hatte? Ibn Sina argumentierte, sich auf Aristoteles beziehend:

00:19:10: Es ist klar, dass Gott die Ursache der wahren Traumvisionen ist, und dass er dem Menschen […] mitteilt, was in der Zukunft und auf der ganzen Welt geschehen wird.

00:19:23: Die Überlieferung des Aristoteles in verschiedenen Sprachen ins Mittelalter lässt sich als eine Verflechtung und ein Transfer von Wissen beschreiben. Es handelt sich dabei gerade nicht um klar voneinander abgrenzbare Positionen.

00:19:38: Was da passiert ist, ist besonders interessant. In der arabischen Fassung von Aristoteles’ Schriften zu Schlaf und Traum finden wir auf einmal die gegenteilige Position zu der des Aristoteles. In dieser Übersetzung oder – man müsste dann eher sagen – Übertragung oder eben Reformulierung der aristotelischen Schriften, die im arabischen Raum zirkulierte, wurde im Namen des Aristoteles behauptet, dass Gott den Menschen die Träume schickt. Und alle Passagen, die damit zu tun hatten, dass die Träume natürlich zu erklären sind oder dass die Träume nicht von Gott gesendet wurden, die wurden gestrichen. Das hat natürlich damit zu tun, dass derjenige, der diese Übertragung vorgenommen hat – wir wissen heute leider nicht mehr genau, wer das war, – den Träumen einen höheren Stellenwert verleihen wollte, und gleichzeitig das mit der Autorität das Aristoteles, der eben auch damals schon sehr bekannt war, bekräftigen wollte. Deswegen hat er Aristoteles diese Theorie im Nachhinein in den Mund gelegt. Wir haben also eine arabische Version der Schriften zu Schlaf und Traum, die im Namen des Aristoteles genau das Gegenteil dessen behauptet, was Aristoteles eigentlich geglaubt hat, und die behauptet, dass Gott die Träume zu den Menschen sendet.

00:20:58: Es gab aber auch Philosophen des Mittelalters, denen trotz dieser veränderten „Überlieferung“ die Ansichten des Aristoteles vertraut waren. So kannte etwa der jüdische Philosoph Schem Tov ibn Falaquera aus dem 13. Jahrhundert das Argument des Aristoteles, dass auch die Hunde träumen. Dennoch zweifelte er nicht am Offenbarungscharakter des Jakobstraumes. Er löste den Widerspruch, indem er wie folgt unterschied:

00:21:29: Es gibt keine Schwierigkeit: Dort: durch einen Engel – dort: durch einen Dämon.

00:21:43: Dass Träume auch von Dämonen gesendet werden können, war ein verbreiteter Glaube. Und Falaquera greift das hier auf, um zu erklären, dass Träume eben zwei verschiedene Ursachen haben können. Das heißt, einerseits können die Hunde träumen, und diese Träume sind eben nicht wahr und auch nicht von Gott gesendet. Andererseits können aber die Menschen trotzdem von Gott gesandte Träume haben. Und Falaquera beschäftigt sich dann auch mit dem Traum Jakobs und versucht eben zu erklären, wie Jakob im Traum dieses göttliche Wissen erhalten konnte. Und das passiert, laut Falaquera, über die Verbindung des menschlichen Verstandes mit einer höheren Sphäre. Um jetzt diese eher philosophische Erklärung mit der biblischen Geschichte in Verbindung zu bringen, legt Falaquera die Bibelstelle Wort für Wort aus. Und dabei versteht er den hebräischen Satz „ba ha-schemesch“, was bedeutet „Die Sonne geht unter“, ganz ganz wörtlich. Dann kann es nämlich auch bedeuten: „Die Sonne kam“. Und hier versteht er das Erscheinen der Sonne und eigentlich ihr Erstrahlen in dem Moment, als das Strahlen von einem göttlichen Licht durch das Jakob dieses göttliche Wissen vermittelt wird.

00:23:05: Vielleicht kann man an dieser Stelle nochmal festhalten, dass damit der Traum selbst, die biblische Situation in den Hintergrund rückt, die Psychologie, also die Frage, welche Stelle im Bewusstsein, und hier die Imagination oder die Empfänglichkeit für eine Art höheres Licht, symbolisiert durch die Sonne und ihre Ausstrahlung, größere Relevanz bekommt. Das zeigt sich in einer Fülle von mittelalterlichen Auseinandersetzungen quer durch die Konfessionen und theologischen Hintergründe als erkenntnispsychologische Frage. Wie wird die Sonne – im platonischen Sinne derjenige Planet, der als Ausstrahlung eines göttlichen Lichtes in die individuelle Seele wirkt – wie wird dieses göttliche Licht in der einzelnen Seele wirksam? Was weckt sie auf? Wie wird die Vermittlung zwischen überhimmlischer Wirkquelle und seelischer Eigentätigkeit gedacht? Hier kommt die Imagination als Mittlerstelle ins Spiel.

00:24:06: Diese Assoziation von Licht und göttlichem Wirken, dieses Strahlen der Offenbarung sehen wir auch auf dem Bild von Willmann.

00:24:56: Hinter dem Schlafenden, sozusagen in seinem Rücken, aber direkt an seinem Kopf, ragt eine Leiter bis in den Himmel hinauf. Sie zieht sich wie eine diagonale Stiege durch das ganze Bild. Dort, wo Jakob schläft, ist sie farbig und plastisch. Je weiter die Leiter nach oben führt, um so zarter wird die Malerei. Ganz oben, in den Wolken, verschwindet sie in einem sich auftuenden Lichtkreis. Auf jeder Stufe befinden sich Engel. Bewegt, beinahe tänzerisch sehen sie aus, mit wehenden Gewändern, aufgespannten Flügeln und erhobenen Armen. Einige wenden sich dem Schlafenden zu. Genau wie die Leiter selbst sind sie im unteren Bereich plastisch, werden nach oben hin immer durchscheinender und lösen sich schließlich in Licht auf.

00:25:51: Akzeptieren wir nun also, dass Jakob im Traum, vermittelt über die Engel, göttliches Wissen empfangen hat. Dann stellt sich die Frage, welches Wissen wird da vermittelt? Und was bedeuten die Engel und die Leiter?

00:26:04: Es gibt eine Fülle von unterschiedlichen Vorstellungen dazu, was diese Leiter bedeuten könnte. Eine Möglichkeit, das Auf- und Absteigen an der Leiter zu verstehen, die schon in der Antike im Judentum verbreitet ist, sieht in den Engeln nicht Engel, sondern die Vertreter der Weltreiche, also bspw. des Griechischen und des Römischen Reiches. Sie verstehen die Leiter als eine Metapher für das politische Geschehen. Die Könige der verschiedenen Reiche steigen an der Leiter hinauf, müssen aber auch immer wieder hinuntersteigen, denn Gott steht oben auf der Leiter, und er hat Jakob versprochen, dass er, Jakob, zur Herrschaft zurückkehren wird. Das zeigt auch, dass die weltlichen Situationen von Krise und Unterdrückung des Judentums hier immer nur als Zwischenzustände verstanden werden. Am Ende wird sich Gottes Versprechen einlösen, und Jakob wird an diesen Ort, die Juden also in ihr Land zurückkehren. Hier drückt sich die Hoffnung, die mit dem Jakobstraum und mit dieser Leitersymbolik verbunden ist, ganz deutlich aus.

00:27:14: Ein anderes Beispiel wäre, die Umdeutung der Jakobsleiter in christlicher Typologie, sodass der alttestamentliche Jakob zu einer Art Vorfiguration des christlichen Jesus Christus wird, und damit eine Art Vorwegnahme eines Heilsgeschehens.

00:27:35: Die Grundlage für eine solche Umdeutung bietet schon der biblische Text. Wenn es dort heißt „Die Engel steigen daran – also an der Leiter – auf und ab“, dann ließe sich auch verstehen „Sie steigen an ihm – also an Jakob – auf und ab“. Jakob, als der eigentliche Vermittler und – in der typologischen Umdeutung – Jesus als der Vermittler: Die Engel steigen also an Christus selbst auf und ab. Er hat die vermittelnde Position zwischen Gott und Mensch, die in der biblischen Geschichte die Leiter einnimmt.

00:28:10: An das Traumbild kann sich also beispielsweise eine politische Deutung der auf- und untergehenden Weltreiche anlagern. In der christlichen Theologie kann bei der Jakobsleiter Christus an die Stelle von Jakob gesetzt werden. Jakob wäre so gewissermaßen der biblische Vorbote Christi, wodurch sich das, was im Alten Testament erzählt wird, im Neuen Testament erfüllt.

00:28:35: Es gibt auch eine Fülle von Ausdeutungen, die zu einer Verselbständigung der Leiter führen, und diese Leiter mit einer Vielzahl von Konnotationen umdeuten. Wir vergessen also weitgehend Jakob oder Christus, sondern nehmen die Leiter als diejenige Instanz, an die sich verschiedene Deutungen anlagern.

00:28:56: Ein Beispiel dafür sind die mittelalterlichen Wissensleitern

00:29:01: als so etwas wie ein innerseelischer, erkenntnispsychologischer Aufstieg in verschiedenen Graden oder auf verschiedenen Stufen, von einem sinnlichen, vorgestellten, rationalen Wissen bis zur höchsten Einsicht.

00:29:18: Wie es sechs Stufen des Aufstiegs zu Gott gibt, so auch sechs Stufen der seelischen Kräfte, durch die wir von den tiefsten zu den höchsten Dingen aufsteigen, von den äußeren zu den inneren, von den zeitlichen zu den ewigen. Die Stufen sind: Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft, Verstand, Vernunft, Einsicht und die Spitze des Geistes.

00:29:53: Wir haben gerade eine Passage aus der Schrift „Itinerarium Mentis in Deum“ des Philosophen und Theologen Bonaventura aus dem 13. Jahrhundert gehört.

00:30:04: Bereits der Titel, „Die Wanderschaft der Seele zu Gott“, führt uns nicht nur nochmal auf das Gemälde zurück – der Wanderer mit dem Wanderstab ist zugleich ein Streiter –, sondern auch auf das Leitermotiv, auf Stufen des Aufstieges. Stufen oder Stiegen auf der Leiter, die nicht nur unterschiedliche Wahrnehmungsgrade – von der „Sinneswahrnehmung“ über die Einbildung, den „Verstand“, das Rationale bis zu einer hohen „Einsicht“, einer sogenannten „Spitze des Geistes“ – hervorrufen, sondern im selben Zuge: „Die Wanderschaft der Seele zu Gott“ ist auch eine Wanderschaft durch die irdische Welt oder – man könnte sagen – eine Wanderschaft der Seele, die sich auch moralisch bessert, läutert, den Weg in ihr eigentliches Hoffnungsland sucht. Eine Vielzahl von Ausdeutungen der Jakobsleiter zeigen sich deshalb als Tugendleitern.

00:30:59: Wissensleitern und Tugendleitern stehen also für die Wege zu individueller menschlicher Erkenntnis und zum menschlichen Seelenheil. Darüber hinaus dient die Leiter auch der Systematisierung der Wissenschaften – als Wissenschaftsleiter.

00:31:15: Auch zwei mittelalterliche Werke, die die Wissenschaften zusammenfassen, spielen in diesem Sinne auf die Jakobsleiter an. Sie haben ihren Namen aus einem Vers erhalten, der direkt im Anschluss an den Traum folgt. Jakob sagt: „Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes, und hier ist die Pforte des Himmels.“ Die eine der beiden Zusammenfassungen trägt als Titel „Haus Gottes“, die andere trägt den Titel „Pforte des Himmels“. Ganz eindeutig spielen beide auf die Jakobsleiter an.

00:31:49: Hören wir beispielsweise den jüdischen Übersetzer und Philosophen Samuel Ibn Tibbon, der im 13. Jahrhundert die Jakobsleiter als eine Leiter des Wissens folgendermaßen beschrieb:

00:32:04: Und es scheint, dass sie [die Jakobsleiter] auf den Weg der Erkenntnis des menschlichen Verstandes hinweist, auf dem der Mensch seine Vollkommenheit erlangt, die man nicht anders erreichen kann als durch intellektuelle Erkenntnis: Die Geschichte unseres Vorvaters Jakob ist eine Geschichte über die Art von Weg, den der Mensch begehen kann, um zu dieser Vollkommenheit zu gelangen.

00:32:25: So wie die Jakobsleiter von der Erde in den Himmel ragt, und so Jakob, oder den Engeln, den Aufstieg von der Erde bis zu Gott ermöglicht, so sieht Ibn Tibbon die Wissenschaften von der Physik, auf der Erde, über die Astrologie, also die Kunde dessen, was zwischen dem Mond und den allerhöchsten Sphären liegt, bis hin zu Gott, also der Metaphysik, ebenfalls in der Jakobsleiter gegeben.

00:32:56: Und daher weiß man, dass der Mensch zum Erreichen dieser Dinge in ihrer Ordnung mit dem Fuß der Leiter beginnen muss, der auf die Erde gestellt ist, und die Wahrheit studieren von der Leiter bis zu ihrem Ende bei der Sphäre des Mondes. Und danach wisse er die Wahrheit über das, was vom unteren Ende der Mondsphäre bis zum höchsten Punkt der höchsten Sphäre reicht. Und er studiere danach alle Aspekte Gottes, der oben auf der Leiter steht, der oberhalb der obersten Sphäre ist. Und so steigt er, das heißt dieser Mensch, auf der Leiter auf, und zwar bis zu ihrem Kopf, und dort sieht er Gott mit den Dienstengeln, die ebenfalls auf der Leiter stehen.

00:33:44: Die verschiedenen Deutungen der Leiter zeigen, dass hier ganz unterschiedliche Vorstellungen von Wissenstransfer im Spiel sind. Was hält die verschiedenen Ausdeutungen zusammen? Was ist also die Jakobsleiter – jetzt wieder allgemeiner gefragt?

00:34:02: Wir sehen hier schon in dieser Vielfalt der Deutungen – die Jakobsleiter als Tugendleiter, als Aufstieg in den Wissenschaften, als kosmologischer Aufstieg, aber auch als politischer Aufstieg der verschiedenen Weltreiche –, dass die Leiter, von der Jakob träumt, als Denkmodell in ganz verschiedenen Bereichen Anwendung findet. Das sind einerseits philosophische Versuche, sich einen Begriff davon zu machen, was göttliches Wissen ist, wie der Mensch aufsteigen kann zum Wissen, oder auch die Seele des Menschen aufsteigen kann zur Nähe Gottes, andererseits auch ganz andere Fragen, die ebenfalls bereits in der biblischen Erzählung angelegt sind. Fragen nach Krise und Hoffnung. Jakob auf der Flucht, der von Gott wieder Versicherung erhält, spiegelt sich in der politischen Deutung von den unterdrückten Juden, die anhand der Jakobsleiter die Versicherung erhalten, wieder zur Herrschaft aufzusteigen, wieder in Sicherheit zu kommen.

00:34:59: Wenn wir die Leiter nicht nur als Denkmodell sehen, sondern auch als Kippfigur, und vielleicht nochmal den Blick zurückwenden auf das Gemälde – die Leiter, die vom Himmel in die Erde führt, oder umgekehrt, von der Erde zum Himmel aufragt – dann scheint uns diese Verbindung unproblematisch. Tatsächlich aber spielt sich hier, oder zeigt sich hier eine Art paradoxer Übergängigkeit: Denn wie sollten wir diese Vermittlung zwischen Materiellem und Immateriellem, zwischen einer überzeitlichen Hoffnung und dem irdischen Ungeschick, den Katastrophen, den Verheerungen der irdischen Welt tatsächlich begreifen können? Welche Sicherheit hat eine göttliche Offenbarung, die wir niemals gänzlich auszuweisen in der Lage sind, und das Verhältnis menschlicher Erkenntnis- oder Wahrnehmungsfähigkeit im Verhältnis zu dieser? Die Kippfigur, das Umschlagsmoment, und nichts anderes heißt Krise – ein Punkt der Entscheidung, aber auch des höchsten Konflikts – wird in der Jakobsleiter immer mitgedacht.

00:36:47: Unter den Bäumen sind Ruinen aus einer anderen Zeit zu entdecken: eine abgebrochene Säule, ein weiteres umgestürztes Säulensegment, das wie ein Grabstein oder Sarg aussieht. In der Ferne sehen wir etwas wie ein zerstörtes Kirchengebäude. Ein aufgewühlter, sprudelnder Bach schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch. Eine grüne Landschaft mit Ruinen, mit Bruchstücken, voller Vergänglichkeit und Gebrochenheit.

00:37:19: Die Jakobsleiter, haben wir gehört, kann nicht nur im Hinblick auf die Bibelstelle, sondern umfassender als Kippfigur in einer Krisensituation aufgefasst werden. Als Verweis auf einen möglichen Umschlagsmoment hin zu einem Weg aus der Krise, als Hoffnungsschimmer. Im Entstehungskontext von Willmanns Gemälde ist die Krise nicht schwer zu erraten.

00:37:45: Der Dreißigjährige Krieg, eine Phase der massiven Zerstörung, eine Phase von Massenmorden, von Brutalitäten, von interkonfessionellen kriegerischen Auseinandersetzungen, von Krankheitsepidemien, von Armut, Hungersnot, Massakern aller Orten, wird hier also auf der einen Seite thematisiert, aber auch die Hoffnung auf eine Wende, auf einen Lichtschein, der auf eine mögliche Zukunft weist. So ist die Landschaft, die Szenerie mit Bäumen, Fluss, Gestein und einem Ausblick in einen tiefen Hintergrund nicht nur eine Landschaft der Trauer, der Zerstörung und der Verheerung, sondern auch eine Landschaft, die mit den Ruinen auf ein gewesenes Ganzes, das nun zerstört daliegt, aber einem Wiederaufbau, und damit im übertragenen Sinne auch einer Aufbausituation der Seele entgegen wirkt.

00:38:43: Die Ruinen tragen so immer ein Moment von Hoffnung in sich, weil sie nicht nur an Zerstörung, sondern auch an einen Wiederaufbau denken lassen. Dieses Motiv lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Biografie des Malers Michael Willmann. Er ließ sich 1660 im niederschlesischen Leubus nieder, wo er bis zu seinem Tode hauptsächlich für das dortige Zisterzienserkloster arbeitete. Dieses Kloster wurde mehrfach während des Dreißigjährigen Krieges geplündert und in den Jahrzehnten danach wieder aufgebaut, renoviert und ausgeschmückt. Das Gemälde „Landschaft mit dem Traum Jakobs“ war Teil der Ausschmückung des neuerrichteten Refektoriums der Mönche. Zu dieser Zeit war das Kloster bereits auf dem Weg zu neuer Pracht. Die in dem Bild enthaltene Hoffnung hatte sich für das Kloster selbst bereits erfüllt.

00:39:38: Möglicherweise bezieht sich diese Hoffnung aber auch nicht nur auf einen diesseitigen Wiederaufbau, sondern vor allem auf einen jenseitigen. Und das ist ja auch Teil dieser Ruinenlandschaft, dieser Landschaft der Zerstörung, die immer auf die Vergänglichkeit alles Irdischen verweist, und darauf, dass letztlich das, was der Mensch auf der Erde baut, keinen Bestand hat gegenüber dem göttlichen Reich und dem, was Gott eigentlich darüber hinaus auch verspricht. 

00:40:08: Aber ich weiß nicht, ob Du das überhaupt so sehen würdest …

00:40:11: … Natürlich, denn wiederum kann man sagen, die Landschaft bildet nicht etwas ab, oder stellt nicht den Anspruch so etwas wie eine historiografische Landschaftsdarstellung zu sein, sondern weist auch durch die Bildtiefe und die Lichtführung in der ganzen Szenerie auf etwas überzeitlich Erhofftes, auf einen Wiederaufbau, könnte man sagen, der sich in einer anderen Welt abspielen könnte. Und auch das Wanderermotiv, der Stab, die Wanderschaft, die Ruhe als Wendepunkt, als Aufbruch zu einem Weiterwandern, weist uns natürlich im barocken Zusammenhang darauf hin, dass hier jemand aus dem irdischen Jammertal in andere Welten fortschreitet.

00:40:54: Wenn die Jakobsleiter in Krisenzeiten, Zeiten der Kriege, des Leides und der Ungewissheit auftaucht, müsste es angesichts der krisenhaften Menschheitsgeschichte zahlreiche Jakobsleitern in Kunst und Kultur geben. Dabei kann das Motiv nicht unverändert bleiben. Es ist so …

00:41:13: … dass nicht nur dieses Motiv einfach immer wieder aufgegriffen wird und immer wieder einfach nur hervorgerufen wird in verschiedenen Situationen, sondern dass sich auch das biblische Motiv selbst, das schon längst mehr als nur das biblische Motiv ist, immer wieder in diesen Kontexten verändert und immer wieder neu in unterschiedlichen Kontexten gelesen wird und dadurch selbst modifiziert wird; also nicht nur ein biblisches Motiv immer wieder aufgegriffen wird und dabei immer wieder auf das Gleiche zurückgegriffen wird, sondern dieses Motiv sich – wie wir ja gesehen haben – in so vielen verschiedenen Facetten auftritt und sich dieses Motiv dadurch eben auch selbst entwickelt und verändert.

00:41:55: So dass man Kontinuität und Veränderung, Transformation, die sich im Material, in den medialen Bereichen des Thematisierens dieser Kippfigur zwischen Hoffnung und Trauer, zwischen Zeitlichem und Überzeitlichem, zwischen menschlicher Seele und einer Art Instanz, auf die sich diese menschliche Seele richten kann, zwischen der Frage, welche Rolle Träume spielen und ob diese Träume Realitätscharakter besitzen können, immer wieder neu bedenkt und thematisiert.

00:42:28: Bleiben wir noch bei der Krisensituation des Dreißigjährigen Krieges. Schauen wir uns ein anderes Gemälde mit einer Darstellung der Jakobsleiter an – ein Gemälde des Malers Michael Conrad Hirt aus dem Jahr 1642 – und betrachten wir, wie sich das Motiv im eben beschriebenen Sinne wandelt.

00:42:49: Ganz in der Nähe des Bode-Museums, auf dem Alexanderplatz in der Marienkirche finden wir noch eine Darstellung Jakobs und Jakobs Traum. Auch auf diesem Bild sehen wir den schlafenden Jakob in einen roten Mantel gewickelt. Auch auf diesem Bild eine Landschaft mit rechts einer Baumgruppe und links einem kleinen Bach. Im Rücken Jakobs sehen wir eine Leiter, die gleichsam aus Licht zu bestehen scheint und die wie ein Lichtstrahl vom Himmel auf Jakob herunterreicht. Der schlafende Jakob ist zugleich der verstorbene Bürgermeister Heinrich Retzlow. In diesem Bild spiegelt sich zugleich seine ganz individuelle Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod und auf Erlösung. Ganz bewusst wird hier also der Traum Jakobs mit Christus und der Auferstehung in Verbindung gebracht – im Rahmen steht: „Christus ist mein Leben, Sterben ist mein Gewinn.“

00:43:56: Haben wir am Gemälde des Berliner Bürgermeisters gesehen, wie eine Individualperson sich historisch als Heilsträger, als christologische Figur inszeniert, so wird sichtbar, dass im Fortgang der Zeiten die Motivik der Jakobsleiter und das Moment zwischen Krise und Hoffnung, die Kippfigur, vor allen Dingen in Krisensituationen der Moderne eine besondere Rolle zu spielen beginnt, und vor allen Dingen musikalisch im wahrsten Sinne des Wortes Karriere macht.

00:44:28: Was wir schon von Beginn an hören, sind Variationen auf einen Choral. Er ist eine Vertonung des Gedichts „Näher, mein Gott, zu Dir“ der Dichterin Sara Flower Adams aus dem Jahr 1841. Dieser Choral wird im angelsächsischen Raum oft auf Beerdigungen und Trauerfeiern gespielt.

00:45:04: Das berühmte Orchester auf der Titanic soll übrigens genau diese Melodie beim Untergang des Schiffes gespielt haben. Das wird in vielen Verfilmungen wieder aufgegriffen, und daher kennt man vielleicht auch schon die Melodie des Chorals. Die Titanic geht unter, doch das Orchester spielt. Der Klang weist über den Untergang der Titanic hinaus.

00:45:49: Um die Verbindung zwischen Jakobsleitermotiv und dem Untergang der Titanic zu verstehen, hören wir in den Text des Chorals hinein:

00:46:11: Bricht mir, wie Jakob dort, Nacht auch herein, Find ich zum Ruheort nur einen Stein, Ist selbst im Traume hier mein Sehnen für und für: Näher, mein Gott, zu Dir, Näher zu Dir! Geht auch die schmale Bahn aufwärts gar steil, Führt sie doch himmelan zu meinem Heil. Engel so licht und schön winken aus sel'gen Höhn: Näher, mein Gott, zu Dir, Näher zu Dir!

00:47:35: Das heißt, genau diese Motivik, die wir von der Jakobsleiter kennen, auch wenn ich verzweifelt bin, auch wenn mir die Nacht hereinbricht – was hier eben wieder zum Symbol für Krise, für Verzweiflung wird –, wenn ich zum Schlafen so wie Jakob nur einen Stein hab, wenn ich also eigentlich von allen verlassen bin, ist das einzige, was ich mir wünsche, wonach ich mich sehne: Näher, mein Gott, zu Dir. Das heißt, von Gott seiner Anwesenheit versichert zu werden und eigentlich genau das zu erfahren, was Jakob eben in genau dieser Situation der Krise und der Flucht erfahren hat. Im Übrigen hat der US-amerikanische Sender CNN angekündigt beim Weltuntergang so lange auf Sendung zu bleiben wie überhaupt nur möglich und ganz zum Abschluss, vor der endgültigen Abschaltung des Kanals, soll genau dieser Choral gespielt werden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

00:48:51: Diese Hoffnungs- und Krisenzeichen, die Jakobsleiter, die in diesem Choral prominent zur Sprache gebracht wird, spielt in einer Fülle von Darstellungstraditionen, literarischen Auseinandersetzungen oder musikalischen Inszenierungen des 20. Jahrhunderts eine große Rolle.

00:49:26: Springen wir in die Endphase des Ersten Weltkriegs. Der Komponist Arnold Schönberg, bekannt für seine Kompositionen in der Zwölftontechnik und für den Einsatz von dissonanten Klängen, schrieb ein Oratorium für Soli, Chöre und Orchester mit dem Titel „Die Jakobsleiter“. So sehr Schönberg über die Jahrzehnte mit der Fertigstellung dieses Werkes rang – es blieb unabgeschlossen. Aus der Erfahrung von zwei Weltkriegen, verhandelt das Oratorium Fragen der menschlichen Existenz. Ist es in der Moderne angesichts des Zivilisationsbruchs und der Unmenschlichkeit des Krieges überhaupt möglich, an der Religion festzuhalten? Oder fußt die Hoffnung auf ein Fortleben – sei es in der Erinnerung oder in der Liebe – auf anderen Grundlagen?

00:50:18: Anders vielleicht als in der stark gebrochenen, von einer intensiven krisenhaften, verzweifelten, von Misstrauen angesichts der hoffnungslos verheerten Zuständlichkeit der Welt geprägten Intonierung Schönbergs finden wir in Popularkulturen vielfach Auseinandersetzung mit der Jakobsleiter, die motivisch auftaucht. Insbesondere in der Popkultur als „Stairways to Heaven“, als eine Art Leiter, die zumindest als Sehnsuchtsfigur – ähnlich wie vielleicht in der Malerei Chagalls – sehr viel mehr den Aspekt des Verträumten, der Sehnsucht, der Imagination, des traumwandlerisch Möglichen inszenieren und akustisch, malerisch oder literarisch vor Augen und Ohren stellen. 

00:51:15: Ausgehend von einer detaillierten Betrachtung des Gemäldes von Michael Willmann aus dem Bode-Museum Berlin haben wir das Motiv der Jakobsleiter an ausgewählten Beispielen durch die Zeiten verfolgt. Es geleitete uns durch eine über Jahrhunderte laufende Diskussion über den Status des Wissens, das sich in Träumen vermittelt. Wie erlangt es Geltung? Kann man darauf ganze Religionen und Staaten begründen? Oder ist es lediglich Zufall, wenn die eintretende Realität dem zuvor Geträumten entspricht? Diese Fragen formulieren vermeintlich klare Gegenpositionen. Die darin enthaltene Zuspitzung hilft uns, Grundzüge der Debatten über Traumwissen zu fassen. Tatsächlich sind die Positionen aber gar nicht so deutlich voneinander zu trennen. Sie beeinflussen einander, verweben sich …

00:52:10: Ein ganz entscheidender Gedanke unserer Forschungsmethodik, Traditionen nicht nebeneinander, sondern in ihrem Ineinander und ihren wechselseitigen Veränderungsbewegungen zu untersuchen – und das heißt sowohl unterschiedliche theologische als auch philologische und philosophische Ströme stets in ihren Wirksamkeiten und in ihren Verflechtungen zu untersuchen.

00:52:34: Die Jakobsleiter wird auf vielfache Weise theologisch, philosophisch und politisch ausgedeutet. Als Leiter des Auf- und Abstiegs der Weltreiche, als Wissensleiter, als Wissenschaftsleiter, als Tugendleiter.

00:52:51: Ich glaub, für meine Forschung ist an so einem Motiv auch noch einmal wichtig, dass sich daran zeigt, wie sich … dass sich nicht nur die Philosophen einfach dieses Motiv vornehmen, um damit irgendwas zu rechtfertigen, was sie ohnehin machen wollen, sondern dass solche Motive, solche Erzählungen, die immer wieder aufgegriffen werden und immer wieder rezipiert werden, eben auch die Vorstellung prägen. Z. B. davon, was ist Wissen und welche Funktion hat Wissen? Wenn also die Jakobsleiter dann zum Symbol für die Wissenschaften wird, dann wird auch die Vorstellung davon, wie man in den Wissenschaften aufsteigt, wie man von der Erde zu Gott zu gehen hat, davon wieder mitgeprägt. Und es sind oft bestimmte Vorstellungen oder bestimmte Konzepte, die sich eben an solch ein Motiv heften und dann aber mit dem Motiv auch zwischen verschiedenen Kulturen oder zwischen verschiedenen philosophischen Strömungen wiederum vermittelt werden.

00:53:55: Wir haben jetzt einen breiten, großen Horizont aufgespannt von Transfermodellen eines motivischen Zusammenhangs, der in biblischen, theologischen, philosophischen, psychologischen Konstellationen eine große Rolle spielt, bis ins 20. oder gar 21. Jahrhundert. In unserer Forschung spielt insbesondere diese Anlagerung von Wissensfragen an die Leiterthematik als Denkmodell, als Scharnierstelle, als Kippfigur eine entscheidende Rolle. Wir fokussieren uns auf mittelalterliche Auseinandersetzungen, um insbesondere die verschiedenen Konnotierungen und wechselseitigen Bestimmungen zwischen theologischen, philosophischen, wissensgeschichtlichen Anlagerungen bestimmen zu können, und hier nicht einfach nur die Vermittlung eines Motives durch die Zeiten zu verfolgen, sondern vor allen Dingen zu fragen, inwiefern artikuliert sich daran je ein spezifisches Wissen. Ein Wissen, was über rationale, rein begriffliche Zusammenhänge hinausweist und in ästhetische, erfahrungsgestützte, lebensweltliche, sozialkritische aber eben auch epistemische Auseinandersetzungen eingreift. Die Jakobsleiter ist dafür ein Paradebeispiel.

00:55:17: Vielen Dank an Anne Eusterschulte und Hanna Zoe Trauer.

00:55:20: Gern geschehen!

00:55:22: Ja, vielen Dank auch von unserer Seite. 

00:55:26: Sie hörten die Episode „Engel auf der Leiter, oder: Wie im Traum das Wissen vom Himmel fällt“ des Podcasts Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Danke fürs Zuhören und bis zum nächsten Mal. Und – bleiben Sie in Bewegung.

00:56:22: Das war „Engel auf der Leiter, oder: Wie im Traum das Wissen vom Himmel fällt“ aus der Reihe Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Eine Produktion des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Anne Eusterschulte und Hanna Zoe Trauer. Stimmen: Friederike Kroitzsch sowie Matthias Kelle. Die Jazz-Fassung des Chorals "Näher, mein Gott zu Dir" wurde eigens für diesen Podcast produziert. Gesungen von Selda Kaya, am Klavier Armin Hempel, am Kontrabass Tomás Peralta, am Schlagzeug Jens Baumann. Diese Folge ist in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.