Hinter den Dingen

Transkript

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00:00:00: Heute führt uns eine handgeschriebene Liste aus einem Skizzenbuch Leonardo da Vincis auf einen virtuellen Streifzug durch seine Büchersammlung. Wir erleben die Explosion kosmologischen Wissens zur Zeit des frühen Buchdrucks und tauchen ein in den geistigen Kosmos Leonardos.

00:00:22: Wohin führt uns die detektivische Jagd nach den Büchern, die Leonardo besaß? Aus welcher Fassung der Sphaera von Johannes de Sacrobosco schöpfte Leonardo sein Wissen? Und was ist da in seiner Werkstatt los?

00:00:39: Unus … una … unum … unius … unius … unius … ähh … uuuni

00:00:55: Mein Name ist Sophie Ruch und Sie hören:

00:00:59: (Jingle) Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören

00:01:10: „Leonardos Bücherliste“

00:01:14: In einem Skizzenbuch Leonardo da Vincis, das auf das Jahr 1495 datiert und heute als Codex Atlanticus bezeichnet wird, finden wir auf Blatt 559 eine Liste von Begriffen. Mit rotem Ocker, sogenanntem „Rötel“, hat Leonardo dort auf dem etwa DIN A4 großen Papierbogen in Spiegelschrift von rechts nach links einzelne Schlagworte, Namen und Begriffe, untereinander in zwei Kolumnen aufgelistet. Sie heben sich deutlich von den durchschimmernden Skizzen und Notizen der Rückseite ab. Der Linkshänder Leonardo schrieb vermutlich so, weil es für ihn am bequemsten war, und damit er das Geschriebene nicht mit der Handkante verwischte.

00:01:59: donato, d’abacho, plinio, bibia, de re militari, pistole del filelfo, spera, lapidario, alberto magno, dottrinale, giovan dimandivilla, Äsopo, Petrarcha

00:02:22: Das ist eine von Leonardos Bücherlisten. Sie umfasst Bücher, die Leonardo wahrscheinlich besaß, die er vielleicht gelesen, verliehen oder sich ausgeliehen hat, oder die er sich auch nur beschaffen wollte. Die Liste beschreibt einen Teil seiner biblioteca perduta.

00:02:40: Also Leonardo, auf den bezieht sich dieser Ausdruck biblioteca perduta, hat eine Bibliothek besessen – wie man rekonstruieren kann –, aber sie ist heute so nicht mehr vorhanden. Das Interessante ist, man kann sie aus seinen überlieferten Notizen rekonstruieren. Perduta heißt „verloren“. Sie ist also halb verloren. Die physische Bibliothek ist nicht mehr da, aber wir wissen mehr oder weniger, und das ist ein schwieriges Feld, was diese Bibliothek an Bänden umfasste. Und wir wissen aus Leonardos Aufzeichnungen oder wir können es rekonstruieren und mutmaßen auch, wie er sie im Verlaufe seines Lebens aufgebaut hat. Also das ist mit anderen Worten eine spannende Herausforderung, und deswegen ist das Ganze, das Stichwort biblioteca perduta, eigentlich der Titel so eines Detektivromans, wenn man so will.

00:03:31: Ja, wir haben kein Inventar oder keine richtige Bibliografie oder bibliografische Daten der Bücher, die Leonardo gekauft hat in seinem Leben oder für sich eingeholt hat, und Teil seiner Bibliothek geworden sind. Wir haben nur seine privaten Notizen. Das sind die sogenannten Bücherlisten von Leonardo. Und diese privaten Notizen sind meistens von Leonardo selbst geschrieben worden in bestimmten Phasen seines Lebens …

00:03:58: Die Bücherlisten führen bunt gemischt mal den Titel des Buches, mal den Autor, mal das Thema des Buches auf.

00:04:07: Briefe von Ovid, Petrus de Crescentiis, Neue Rhetorik, Erhaltung der Gesundheit, Über das ehrliche Vergnügen, Spera, …

00:04:19: Ich bin Jürgen Renn:, ich bin Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und interessiere mich für die Evolution des Wissens in vielen Epochen und bin unglaublich dankbar und froh mit vielen Kollegen am Institut über diese großen Fragen gemeinsam arbeiten zu dürfen. Und ja, wir beschäftigen uns mit Leonardo, aber wir beschäftigen uns auch mit der Antike, und wir beschäftigen uns mit den Ressourcen, die die Wissenschaftsgeschichte auch für unsere gegenwärtigen Herausforderungen bereithält. Und das treibt mich um.

00:04:50: Ich bin Matteo Valleriani:, ich bin Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, bin Wissenschafts- und Technologiehistoriker und forsche meistens zu Antike, Spätmittelalter und Frühe Neuzeit. Momentan sehr viel zur Entwicklung und Transformation der Kosmologie und der Astronomie zwischen 13. und 17. Jahrhundert.

00:05:16: … über Chiromantie, Cecco d’Ascoli.

00:05:21: Wie sagte das Mitglied der Akadémie Française Pierre de la Gorce 1920: „Sag mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist.“

00:05:35: Ja, welchen Leonardo hätten Sie gerne?

00:05:45: Also Leonardo da Vinci war ein herausragender Wissenschaftler und Ingenieur. Und dadurch, dass wir seine Bibliothek rekonstruieren können, können wir erstmal sehen, inwieweit seine Errungenschaften in Verbindung mit dem Wissen seiner Zeit standen, und was er sonst gelernt hat. Und im Grunde genommen damit aber auch etwas gegen die Idee des Genies gehen und zeigen stattdessen, in dem Fluss der historischen Evolution des Wissens, wie Leonardo auch erklärbar ist, trotz seiner wunderbaren Errungenschaften, aber im Rahmen des Wissens der Zeit. Und durch die Bibliothek natürlich können wir auch viel mehr auf sein Profil, auf seine Biografie, seine intellektuelle Biografie eingehen und viel besser sie untersuchen.

00:06:40: Es ist auch die Zeit, in der es überhaupt erst möglich wird, Bibliotheken in einem modernen Sinne, also mit gedruckten Büchern, zusammenzustellen. Und was eben auch an Leonardos Bibliothek faszinierend ist: Es ist eine der frühesten Privatbibliotheken überhaupt, denn Leonardo war ja kein Fürst, kein Bischof, kein Papst, der sozusagen eine Institution repräsentierte, sondern er war letztlich ein Privatmann. Und eigentlich erst die Verbreitung von Büchern und auch die Zugänglichkeit durch den Buchdruck machte es überhaupt möglich, so eine Privatbibliothek zusammenzustellen.

00:07:19: Die Rekonstruktion von da Vincis Bibliothek ist kein neues Unterfangen. Schon seit dem 19. Jahrhundert arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, die Bibliothek virtuell zusammenzutragen. In den vergangenen Jahrzehnten haben verschiedene Ausstellungsprojekte der Büchersammlung zu materieller Präsenz verholfen und zeigen …

00:07:40: … welche Bücher Leonardo hatte. Natürlich immer unter der Voraussetzung, dass man die Notizen von Leonardo auch korrekt, sagen wir so, interpretiert hat oder in einer nachvollziehbaren Weise diese Assoziation zwischen Notizen und Büchern erklärbar machen kann. Und in der jüngsten Zeit sind solche materielleren Rekonstruktionen in Florenz, glaube ich, und in Rom zuletzt unternommen worden.

00:08:14: Stanford.

00:08:15: Und in Stanford. In Florenz, in Rom und in Stanford unternommen worden.

00:08:23: Und neuerdings auch in Berlin – unter der Leitung von Jürgen Renn: und Matteo Valleriani:, zusätzlich kuratiert von der Kunsthistorikerin Sabine Hoffmann und dem Wissenschaftshistoriker Antonio Becchi, die sich der Herausforderung gestellt haben …

00:08:39: … ob es eben möglich ist, einen Leonardo auch hier in Berlin zu finden.

00:08:45: Lesen macht mir Spaß. Pirus hat Bücher im Überfluss.

00:08:52: In Leonardos verstreuten Aufzeichnungen gibt es insgesamt fünf Seiten, auf denen er Bücher aufgelistet hat.

00:09:01: Donatus, Vom Abakus, Plinius, Bibel, Über Kriegswissenschaft, Spera, John Mandeville, Äsop, Petrarca …

00:09:17: Insgesamt finden sich Hinweise auf ca. 200 Werke. Diese sind jedoch nicht immer eindeutig. Abakus ist zum Beispiel eine Einführung in die Grundlagen der Mathematik, vor allem in die Mathematik, die zum Wirtschaften notwendig war. Von solchen Werken gab es damals unzählige. Oder Petrarca: Der Dichter, Geschichtsschreiber und Humanist hat ja mehrere Bücher geschrieben. Aber welches ist hier gemeint?

00:09:44: Und manchmal weiß man auch nicht, ist Plinius der Ältere oder Plinius der Jüngere gemeint?

00:09:49: Und als wäre das nicht schon Herausforderung genug: Was verbirgt sich hinter:

00:09:54: Buch mit einer grünen Gamslederhülle.

00:09:58: Die Identität dieses Buches lässt sich bisher nicht klären. Aber wer weiß? Vielleicht findet jemand in der Zukunft ein Buch mit grüner Gamslederhülle und darin Randnotizen aus der Hand Leonardos, und ein weiteres Buch kann der Bibliothek hinzugefügt werden.

00:10:17: Armselig ist der Schüler, der seinen Meister nicht übertrifft.

00:10:49: Man sieht auch schon in dieser Liste die verschiedenen Etappen von Leonardos, wenn man so will, Bildungsgang, weil er hat sicherlich einzelne Dinge sehr früh zur Kenntnis genommen. Er war als Sohn einer bürgerlichen Familie vertraut mit der literarischen Tradition von Florenz. Er war in dieser Stadt natürlich auch wahrscheinlich sehr schnell vertraut mit Grundlagen der Arithmetik, wie sie so in den Abakus-Traktaten niedergelegt worden sind. Als Künstler hat er sich natürlich mit Literatur beschäftigt, die die Motive zum Teil geliefert hat, von der Bibel bis hin zu den Fabeln von Aesop oder Ovids Metamorphosen. Und dann ist er aber, insbesondere in der Zeit, in der er dann nach Mailand gegangen ist, hat er sich zunehmend zum einen mit Ingenieurwesen, mit Militärarchitektur, mit Militärwesen beschäftigt und zum anderen natürlich mit höfischer Kultur. Also man sieht an der Bibliothek selber den intellektuellen Werdegang von Leonardo, und das auch macht sie so spannend.

00:11:55: Die individuelle und zu Teilen autodidaktische Entwicklung Leonardos ging oft von konkreten Problemen aus, die er lösen wollte. Sie findet im Kontext einer Wissenszirkulation statt, in der über Universitäten und höfische Kreise hinaus ein bestimmtes Wissen international verbreitet wurde. Und an diesem Wissen wollte und musste Leonardo auch teilhaben.

00:12:20: Aber man sieht zugleich, das ist bei Leonardo vom Operativen, vom Pragmatischen immer nicht nur ins Spielerische, sondern ins Explorative übergegangen. Also er hat dann Ansätze, und wie gesagt, er hat nicht alles aus sich heraus geschaffen, er hat es immer wieder angeknüpft an das Wissen seiner Zeit …

00:12:39: Leonardo lernt.

00:12:44: Unus … una … unum … unius … unius … unius … ähh … uuuni … uni … uni … unum …

00:12:59: Die Zahl der Lehrbücher und Standardwerke in seiner Bibliothek zeigt, wie Leonardo sich Wissen aus Kosmologie, Mechanik und Architektur angeeignet hat. Um mitreden zu können, lernte er, sich gewählt und rhetorisch auf der Höhe der Zeit auszudrücken, elegante Briefe zu verfassen und: Latein. Dies war schon allein deshalb nötig, da es bestimmte Werke, an denen er interessiert war, nur auf Latein gab. Also begann er mit etwa 40 Jahren sein Selbststudium des Lateinischen anhand von Lehrbüchern. Auf unserer Bücherliste finden wir die lateinische Standardgrammatik von Donatus. Leonardos ‚Homeschooling‘ schlägt sich auch in seinen Notizbüchern in Deklinationslisten und Beispielsätzen antiker Klassiker nieder, die er aus Lehrbüchern abschrieb. Im sogenannten Manuskript I des Institut de France stehen nicht nur die Deklination von unus, sondern auch die Beispielsätze:

00:14:03: Akkusativ, Infinitiv: Me iuvat legere. – Lesen macht mir Spaß. 2. Nominativ, Ablativ, ohne Präposition: Pirus abundat libris. – Pirus hat Bücher im Überfluss.

00:14:22: Sicherlich spielte neben dem Interesse, lateinische Bücher lesen zu können, auch eine Rolle, dass es Leonardos Status im höfischen Kontext minderte, wenn er nicht Latein sprach. Im Codex Atlanticus findet sich folgende Notiz:

00:14:39: Ich weiß wohl, manch Anmaßender wird glauben, er könne mich, da ich nicht Lateinisch kann, mit Recht tadeln, indem er anführt, ich sei kein gelehrter Mann. Törichte Leute!

00:14:52: Allerdings gehörten Sprachen wohl generell nicht unbedingt zu den Stärken des Universalgenies Leonardo. Nach Ansicht der Experten tat er sich schwer mit dem Lateinischen.

00:15:15: Sphaerae mundi compendium foeliciter inchoat.

00:15:25: In unserer Bücherliste steht unter anderem der Begriff „spera“. An diesem Eintrag können wir exemplarisch nachvollziehen, was für ein Kosmos an Wissen und an Wissensbewegungen sich hinter einer solchen unscheinbaren und etwas kryptischen Notiz auftut.

00:15:43: Mit Sphaera hat man in der Zeit von Leonardo einen bestimmten Wissensbereich gekennzeichnet. Und zwar einen Wissensbereich, der mit Kosmologie und Astronomie zu tun hat. Und Sphaera – man könnte es heutzutage Sphaera-Wissen benennen. Sphaera war eine Art Label, um eben eine Sammlung von Werken und vor allem von einem bestimmten Wissen, das in diesen Werken enthalten war, darzustellen. Das heißt also, Sphaera war ein Wissen, das man lernen musste im ersten Jahr der universitären Studien in der Fakultät der freien Künste, die alle Studenten durchmachen mussten.

00:16:23: Wenn man von Kosmologie oder Astronomie oder Geographie spricht – also insgesamt geht es um das Weltbild. Und viele meinen ja noch, damals hätte man gedacht, die Erde sei noch eine Scheibe, bis Kolumbus kam. So war das eben nicht, sondern das vorherrschende Weltbild, und eben ein sehr verbreitetes Weltbild, war das einer geozentrischen Welt. Also die Erde als eine Kugel im Zentrum, darüber das Firmament, und am Firmament bewegen sich Sonne, Mond und Planeten. Also das war im Grunde ein schlichtes, aber nicht ganz so schlichtes Weltbild, weil – Sphaera heißt es eben deswegen: „kugelförmig“ – man hat sich den Himmel kugelförmig gedacht. Und man konnte im Prinzip dann sagen: Wie kommen Sonnen-, wie kommen Mondfinsternisse zustande? Wie kommen die Jahreszeiten zustande? Und an dieses Kernwissen konnte man eben verschiedene andere Wissensbereiche anlagern. Ich glaube, man kann die Zeit nicht verstehen, ohne zu wissen, dass über Jahrhunderte – und das war ja ein Bestseller, die Sphaera – alle dieses Wissen im Hinterkopf hatten.

00:17:30: … so bezeugens abermals die Schifffahrten, dann wann man auff dem Meer außfehret von einer Stadt, so sihet der, welcher oben im Mastbaum ist, eine Stadt viel eher und länger als der, so im Schiff stehet, weil zwischen seinen Augen und der Stadt das Wasser liegt, welches den obersten, der im Mastbaum ist, weil er höher stehet, nicht irren kan, hergegen aber dem untersten im Schiff, wegen des Wassers Runde, so als ein Berg zwischen seinen Augen und der Stadt darzwischen und erhoben liegt, verursacht, daß er die Stadt und Land gar nicht sehen kann …

00:18:06: Das war ein Ausschnitt aus dem Tractatus de sphaera mundi von Johannes de Sacrobosco, in der deutschsprachigen Variante von Johann Georg Triegler aus dem Jahr 1622. Wenn zu Leonardos Zeiten der Begriff „sphaera“ fiel, meinte man damit …

00:18:26: … fast immer einen besonderen Text, und zwar den Tractatus de sphaera von Joannis de Sacrobosco. Dieser Text war allerdings schon im 13. Jahrhundert geschrieben an der Universität von Paris für die Studenten und wurde weiterhin verwendet bis zum 17. Jahrhundert.

00:18:44: Dieses Lehrbuch aus dem Jahr 1230 fasst das antike Wissen zur Kosmologie zusammen und kombiniert es mit Wissen aus dem arabischsprachigen Raum. Und ausgerechnet dieses eine Lehrbuch wird über 400 Jahre hinweg verbreitet.

00:19:02: Ja, also Sacrobosco hat sicherlich eine kluge Neukomposition des Wissens in diesem Text realisiert. Er hat tatsächlich dieses Wissen extrem zugänglich gemacht. Es ist ein wunderbarer Text. Wahrscheinlich also ist er ein talentierter Lehrer. Also die Komposition des Textes ist sehr erfolgreich, womöglich dadurch, dass er von Anfang an ein Gesamtpaket geliefert hat, also Kalendrik und Sphaera und ein bisschen Mathematik, also Arithmetik, und dann noch ein Text zur Verwendung eines Quadranten, um tatsächlich so, weiß ich nicht, die Höhe der Gestirne zu messen, und damit die Zeit zu messen.

00:19:45: Das war eben Wissen, das war nicht nur für, sagen wir mal, Astronomiebegeisterte interessant. Das sind alles Elementarkenntnisse. Das ist sozusagen das antike Weltbild nochmal, wenn man so will ‚für Dummies‘ verpackt, aber so richtig in eine verdaubare Form gebracht. Und damit hatten diejenigen – und das ist ja klar geworden, das sind viele gewesen – hatten eine gemeinsame Wissensgrundlage und das ist, glaube ich, wirklich das Entscheidende.

00:20:09: Und diese gemeinsame Wissensgrundlage breitet sich explosionsartig aus. Getrieben von der zunehmenden Mobilität der Menschen und vor allem von der Entwicklung des Buchdrucks Ende des 15. und im 16. Jahrhundert, entwickelt sich das Geschäft der Drucker und später der Verleger und Händler rasend schnell. Sie sind zwischen Norditalien, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden bestens vernetzt und bringen schon bald Bücher in großer Stückzahl auf den Markt. Und sie verlegen weiterhin: Sacroboscos Sphaera Mundi.

00:21:09: Die Verbreitung des Buchdruckes hat natürlich viele Konsequenzen gehabt. Auf lange Sicht, glaube ich auch wie viele andere Wissenschaftshistoriker, dass das eine der Grundlagen, einer der grundlegenden Aspekte ist, um auch die Entstehung der modernen Wissenschaft zu erklären, historisch. Aber die allererste Konsequenz dieser neuen Technologie war eine radikal zunehmende Verbreitung des mittelalterlichen Wissens. Es wurde erstmal nicht neues Wissen damit verbreitet. Man muss nicht die Verknüpfung machen zwischen dem Advent dieser neuen Technologie, der Verbreitung dieser neuen Technologie und gleichzeitig sofort von neuem Wissen, von neuem wissenschaftlichen Wissen. Das hat erstmal gedauert.

00:21:57: Sphaerae mundi compendium foeliciter inchoat. Nouiciis adolescentibus ad astronomicam.

00:22:06: Leonardo partizipiert also an diesem gesamteuropäischen Wissensbestand zur Kosmologie. Er wird in seinem Bestreben, sich das Wissen seiner Zeit anzueignen, beflügelt durch den Buchdruck. Bücher, die bisher nur in handgeschriebenen Fassungen und an einzelnen Universitäten zur Verfügung standen, wurden nun in großen Auflagen gedruckt. Das Wissen wurde allgemein zugänglich gemacht. Und Leonardo, der Künstler, Erfinder, Techniker, etc., wird Teil einer Wissenscommunity von Lesenden. Jetzt könnte man meinen, dass es klar ist, welches Buch sich hinter seiner Notiz „spera“ verbirgt: die Sphaera Mundi von Sacrobosco – wahrscheinlich in einer Druckausgabe. Fall gelöst? Mitnichten!

00:22:59: Du pflügst das Land, ich säe den Acker.

00:23:04: Die detektivische Arbeit, die Notiz „spera“ mit einem konkreten Buch zu verbinden, nimmt hier erst richtig Fahrt auf. Das Sphaera-Traktat von Sacrobosco ist ein kosmologischer Text, der enorm in Bewegung ist und der sich mit jeder Ausgabe verändert. Legt man heute mehrere Sacrobosco-Ausgaben allein aus dem späten 15. und 16. Jahrhundert nebeneinander, so kommt man nicht auf die Idee, dass es sich dabei um ein- und dasselbe Buch handelt – so unterschiedlich sind sie. Heutzutage gleicht die sechste Auflage eines Lehrbuchs bis auf kleine Änderungen seiner ersten Auflage. Zu Leonardos Zeiten veränderten die Buchdrucker, Verleger und Herausgeber den Text auf vielfältige Weise. Als Editoren kommentierten und bebilderten sie den Text, schrieben ihn um und kombinierten ihn sogar mit Texten anderer Autoren. Deshalb gibt es auch keine zwei identischen Sacrobosco-Editionen.

00:24:06: Ja, also es gibt tatsächlich eine Reihe von Varianten, wie man mit dem Text umgegangen ist. Also das erste war den Text zu nehmen, ihn zu segmentieren, atomisieren sozusagen, und ihn in Absätzen, Absatz für Absatz, einfach zu kommentieren, manchmal auch sehr, sehr lang. Und das wird auch widergespiegelt in dem Layout dieser Bücher, die sehr reich sind. Man sieht so einen Text gedruckt in einer bestimmten Größe, so eine kleine Portion von einem Text, und dann rundherum den Kommentar, der sich direkt auf diesen Absatz bezieht.

00:24:43: Das Buch wurde außerdem dadurch verändert, dass Wissen in Form von Texten anderer Autoren angelagert wurde, also durch …

00:24:51: … die Hinzufügung von weiteren Texten, die bestimmte Themen vertiefen, die im Sacrobosco vielleicht kurz behandelt werden. Dann sind diese Themen aus irgendeinem Grund für wichtiger gehalten worden, und dann entstehen neue Texte. Oder man sucht Texte aus der Vergangenheit vielmehr in der ersten Zeit, die bestimmte Themen vertiefen, und die werden hinzugefügt.

00:25:12: Sacrobosco beschreibt etwa die Klimazonen des Erdballs. Also wird in einer Ausgabe vom Herausgeber ein Text über die medizinische Wirkung des Klimas auf den menschlichen Körper ergänzt. Auch gibt der Text Anleitungen zur Positionsbestimmung anhand der Gestirne. Daher gibt es Ausgaben der Sphaera Mundi, denen geographische Abhandlungen angefügt werden. Mathematisches Wissen behandelt Sacrobosco nur auf der einfachsten Ebene, weshalb die Sphaera Mundi oft gemeinsam mit anderen mathematisch-kosmologischen Traktaten gedruckt wird.

00:25:48: Also es gibt noch zwei weitere Varianten. Eine ist die Paraphrase. Und die Paraphrase, muss man auch sich überlegen, eine Paraphrase kann sehr nah dran an dem Originaltext bleiben, einfach so, wie man es zum Beispiel in der Schule lernt zu machen. Aber eine Paraphrase kann auch ein Moment der Freiheit werden, indem man die Inhalte wieder nimmt, man muss sie auch nicht unbedingt kritisieren, aber man kann sie erweitern in verschiedene Richtungen. Man kann dem Text einen ganz anderen Charakter damit geben. Und dann gibt es eine letzte Variante. Und die letzte Variante ist etwas schwieriger zu finden, weil die besteht aus der Möglichkeit den Originaltext ein bisschen zu ändern. Nicht zu viel, ansonsten fällt es auf. Aber dann ohne das zu erklären.

00:26:39: In den verschiedenen Ausgaben der Sphaera Mundi lassen sich häufig Kombinationen dieser Varianten finden – aber immer wird an Sacrobosco als dem Autor des ganzen Buches festgehalten. Auf diese Weise wurden sogar wissenschaftliche Korrekturen und neuere Erkenntnisse möglichst unauffällig in den alten Text hineingewoben.

00:27:01: Das klingt ja alles unglaublich umständlich. So würde man ja heute nicht verfahren. Man würde sagen: Okay, der Text ist veraltet, meine Güte, ja, der ist ein paar hundert Jahre alt. – Warum macht man das und werkelt da so rum? Ich glaube, es gibt zwei Gründe dafür. Zum einen steht dahinter überhaupt ein bestimmter Stil mit Texten umzugehen, der sich insbesondere in der mittelalterlichen Scholastik ausgeprägt hat, wo es sowas wie kanonische Texte gab. Und das setzt sich in dieser Tradition fort. Aber es setzt sich mit anderen Mitteln fort, denn plötzlich wird das, was im Rahmen der Universität geschehen ist, findet durch den Buchdruck in einem öffentlichen Raum statt. Und damit wird der Prozess der Wissensentwicklung selber ein Stück weit transparent und nicht nur in diesem geschlossenen Raum. Der geschlossene Raum wirkt weiter durch diese Kanonisierung und durch diese strikte Bezugnahme auf die Tradition. Und darin liegt eben auch der zweite Grund: die Konservativität, wenn man so sagen will, dieser Tradition, die natürlich auch durch die kirchlichen Autoritäten, aber eben auch durch die institutionellen Autoritäten befestigt wird – da kann man nicht einfach ausbrechen. Aber das ist, das muss man auch noch hinzufügen, nicht einfach eine konservative Kraft, die das alles blockiert, wie so ein Pfropfen auf der Flasche, sondern das ist auch ein Mittel der Aneignung, des Transports und der Verbreitung dieses Wissens. Also dieses konservative Gerüst hat durchaus auch den Vorteil, dass es wie ein Auffangbecken für Wissen dient, und ist damit auch eine Quelle von Weiterentwicklung und Produktivität und Kreativität von Wissen.

00:28:56: Die zu Leonardos Lebzeiten stattfindende Explosion des kosmologischen Wissens können wir erahnen, wenn wir die schiere Anzahl der Sphaera-Texte betrachten.

00:29:09: Pirus hat Bücher im Überfluss.

00:29:12: Wir haben die handgeschriebenen Traktate, die noch erhalten sind, also Manuskripte. Und dann haben wir die gedruckten Traktate. Bei den Handgeschriebenen gab es einen ersten Versuch zu wissen, vor einigen Jahren, wie viele es davon gibt. Nach 900 verschiedenen Exemplaren in Europa hat man aufgehört. Und zwischen 1472 und 1650 haben wir 360 verschiedene gedruckte Editionen gefunden. Wenn man sich jetzt überlegt, normalerweise wurden immer so ca. 1000 Kopien mindestens produziert für den Markt der Lehrbücher, aber in manchen Fällen viel mehr in manchen weniger. Wir haben leider diese Information historisch sehr, sehr selten, aber ich glaube mit 1000 Kopien sind wir auf der sicheren Seite. Ich persönlich glaube, es waren insgesamt im Durchschnitt mehr als 1000. Aber dann reden wir jetzt mindestens über 350.000 Bücher, die in Europa zirkulierten, in der Zeit, nur von den Gedruckten.

00:30:16: Diese Diffusion des Wissens durch zirkulierende Bücher, die auch verliehen oder schon damals als gebrauchte Bücher wiederverkauft wurden, spiegelt sich auch in der Tatsache, dass an so verschiedenen Orten wie Rom, Stanford oder Berlin die rekonstruierte biblioteca perduta des Leonardo jeweils aus überwiegend lokalen Bibliotheksbeständen bestückt werden kann.

00:30:41: Also wenn wir mal nicht davon ausgehen, dass Leonardo ein Manuskript sich beschafft hat – denn dann ist die Auswahl, wie gesagt, in der Größenordnung von ein paar Hundert und da kann man eigentlich gar nichts mehr aussagen. Aber selbst wenn wir uns nur vorstellen, dass Leonardo mit „spera“ eine gedruckte Ausgabe gemeint hat, dann haben wir schon die Auswahl von etwa insgesamt – in dieser Zeit fing das ja gerade erst an, dass der Text gedruckt wurde – von etwa 42 verschiedenen Ausgaben der Sphaera. Also so groß. Das kann man dann durch weitere Argumente einschränken, aber das ist erstmal sozusagen das Ausgangsproblem.

00:31:22: Wir machen hier aber einen Zeitsprung und überspringen viele einschränkende Argumente, Plausibilitätsabwägungen und Detailrecherchen zu Editoren und Buchhändlern. Es bleiben zwei Bücher. Eines fällt in die Kategorie, in der zum ursprünglichen Sacrobosco-Text weitere Traktate hinzugefügt sind. Es ist die Spera des venezianischen Druckers Ottaviano Scotus, die 1490 gedruckt wurde. Dem Originaltext von Sacrobosco sind Abhandlungen von zwei Wissenschaftlern aus dem 15. Jahrhundert beigefügt, die damals zu den brillantesten Astronomen gehörten: Georg von Peuerbach und Johannes Regiomontanus.

00:32:26: Scotus’ Text enthält Sacrobosco erstmal komplett unkommentiert, so wie es war, bebildert, schon paginiert, sehr zugänglich auch nur zum Lesen. Und dann, darüber hinaus, kommen zwei weitere Texte dazu zum Band. Und diese Texte vertiefen eher das Thema, ein typisch mathematisch astronomisches Thema der Zeit, das zunehmend wichtiger wird: Wie berechnet man die Position der Planeten, wie kann man sie voraussagen? Oder wie funktionieren die Planetenbahnen? – aus einer eher mathematischeren Perspektive. In Sacrobosco wird erklärt, in welche Richtung sie gehen, oder ob sie langsam oder schnell sind, aber darüber hinaus gibt es keinen Ansatz der Quantifizierung. Wenn man ein bisschen präziser sein will, wie wir das kennen aus der Astronomie, dann muss man natürlich diesen Ansatz weiter vertiefen. Und das wird gemacht durch die Hinzuführung von diesen zwei Texten von Peuerbach und Regimontanus.

00:33:25: Das zweite Buch, das von den 42 möglichen noch in Frage kommt, fällt in die Kategorie der Paraphrasen der Sphaera Mundi. Der Text wurde 1435 von dem Seidenhändler Gregorio Dati verfasst und ist in gedruckter Fassung 1475 posthum erschienen. Grob dem Aufbau des ursprünglichen Traktats folgend, dichtete Dati den Text in Versform neu.

00:33:53: Der hat eher einen poetischen Charakter, ist in Reimen geschrieben worden und kommt einem, wenn man den sich so anschaut, aus heutiger Sicht eher wie ein Laientext – also in Englisch würde man sagen science for poets – so eine sehr einfache Einführung, fast naiv vor. Aber schön. Schön illustriert. Schön in Reimen geschrieben.

00:34:23: In der hohen Herrschaft des Himmels mit fester Wesenheit regiert er, bewegt herum und hält das Firmament, das uns deine große Macht zeigt. Für seine grenzenlose Umarmung besitzest du ein unendliches Wissen. Um das große Ornament zu betrachten hast du für uns eine solche Pracht am Himmel geschaffen.

00:34:48: Die entsprechende Passage zur „ersten bewegten“ Sphäre in der Ausgabe von Scotus, die sehr nah an dem ursprünglichen Text von Sacrobosco ist, klingt deutlich nüchterner. Sie bringt diese äußerste Sphäre auch nicht mit Gott in Verbindung.

00:35:08: Die Sphäre wird auf zwei Arten unterteilt, nach der Substanz und nach den Akzidentien. Der Substanz nach wird sie unterteilt in die neunte Sphäre, die „erste bewegte“ oder primum mobile genannt wird, und die Sphäre der Fixsterne, die „Firmament“ genannt wird, und die sieben Sphären der sieben Planeten, von denen einige größer, einige kleiner sind, je nachdem sie sich dem Firmament mehr nähern oder von ihm entfernen.

00:35:41: So, und jetzt kann man sich überlegen, was passte eigentlich besser zu Leonardo? Dieser avancierte, technischere Text, der schon in die Richtung einer spezialisierten, modernen Astronomie geht? Oder der Text, der literarisch sozusagen und auch künstlerisch wahrscheinlich anspruchsvoller war, aber im wissenschaftlichen Gehalt einfach sehr viel naiver, und der im Grunde noch eine vergangene Zeit repräsentierte, wo der Kosmos als ein, holistisches Ganzes, als ein mit christlicher Symbolik, kosmologischer Bedeutung sinnhaft aufgeladenes Gebilde war, das dann auch ausgreift in Astrologie, Medizin usw.? Ja, welchen Leonardo hätten Sie gerne, am liebsten? Den literarischen, künstlerischen Leonardo oder den forschenden, nach vorne strebenden Leonardo? Und ich würde sagen, schon in dieser Ambivalenz liegt ein gewisser Reiz.

00:36:41: Die Jäger der verlorenen Bibliothek Leonardos haben bislang das Buch von Dati hinter der Notiz „spera“ vermutet, in das viel geographisches Wissen eingeflochten ist – nützlich für einen international reisenden Seidenhändler.

00:36:58: Zwischen den zwei Möglichkeiten – die eine, die andere Historiker vorgeschlagen haben, und zwar das Buch von Dati, und die andere Möglichkeit, das Buch von Scotus, in Venedig in 1490 gedruckt –, haben wir uns für das Buch von Scotus entschieden, weil wir glauben, dass das Buch viel mehr verbreitet war, dass viel mehr Exemplare davon gedruckt worden sind, dass es zugänglicher war für eine Person, die gerade nicht in Venedig wohnte.

00:37:25: Die Entscheidung stützt sich auf die Verfügbarkeit der Ausgabe, aber auch auf den Aspekt des lernenden Leonardo. Mit der Scotus-Ausgabe konturieren wir einen Leonardo, der darum bemüht ist, sich das kollektive kosmopolitische Wissen seiner Zeitgenossen anzueignen. Das Lehrbuch für Studienanfänger, ergänzt um zwei aktuelle Traktate, die die neuesten astronomischen Erkenntnisse und die Mathematik dazu vermitteln – darauf fällt die Wahl.

00:37:57: Unus, una, unum, unius, uni, unum, unam, unum, o une, o una, o unum, ab uno, ab una, ab uno.

00:38:10: Verfügbarkeit hat aber auch eine finanzielle Dimension. Leonardo besaß eine für seine Position in der Zeit ungewöhnlich große Privatbibliothek, und Bücher waren teuer.

00:38:23: Wofür hat Leonardo sein Geld ausgegeben? Also soweit man weiß, war er Vegetarier – also für das Essen hat er nicht so viel Geld wahrscheinlich ausgegeben. Aber man weiß auch, aus zeitgenössischen Berichten, dass er sich ausgesprochen gut gekleidet hat. Also er wird oft dann vor der Wahl gestanden haben: Schaffe ich mir jetzt dieses teure Buch noch an oder lieber den neuen Seitenumhang, um dann auf der nächsten – jetzt hätte ich beinahe gesagt ‚Party‘, sondern – höfischen Empfang angemessen zu erscheinen. Also er hat sehr viel Wert auf Umgangsformen gelegt. Und Umgangsformen haben eben die doppelte Seite: Das ist die äußere Erscheinungsform, aber auch der Stoff für die Konversation. Und da brauchte man eben auch die Bücher dafür.

00:39:05: Die Scotus-Ausgabe von Sacroboscos Sphaera Mundi steht eben auch für Bücher, die zu Studienzwecken in schlichter und kleinformatiger Aufmachung und hoher Auflage produziert wurden. Sie mussten für Studierende erschwinglich sein. Häufig wurden sie nach der Lektüre an die neuen Erstsemester weiterverkauft. Zur damaligen Zeit kaufte man Drucke zunächst als ungebundene Papierstapel. Je größer der Umfang, je mehr Illustrationen und je prächtiger der gewählte Einband, desto tiefer musste man in die Tasche „seines Seidenumhangs“ greifen. Der sicherlich teurere Dati-Text hat zudem einen etwas stärkeren theologischen Charakter.

00:39:49: Also es gibt viele Bezüge zum Schöpfer, was in Sacrobosco im Originaltext nicht wirklich der Fall ist, in Datis Text das immer wieder vorkommt. Und da kommen auch astrologische Themen vor, die in Sacroboscos Text, wie es ist, gar nicht vorkommen. In Sacroboscos Text findet man Wissen, das man braucht, wenn man Astrologie betreiben will. Aber es steht da nichts über die möglichen Verwendungen dieses Wissens.

00:40:21: Dass Leonardo kein besonders religiöser Mensch und auch nicht an Astrologie interessiert war, davon gehen die meisten Forscherinnen und Forscher aus – was zusätzlich gegen das Dati-Buch spricht. Leonardo da Vinci schrieb in seinen späten Jahren Endzeitvisionen, in denen ein Jüngstes Gericht und Gott nicht vorkommen, sondern die sterbende Natur im Zentrum steht. Das Anthropozän findet sein Ende. Aus und vorbei.

00:41:12: Die Flüsse werden ohne ihre Wasser sein, die fruchtbare Erde wird nicht mehr keimende Äste hervorbringen und keine mit wogendem Korn geschmückten Felder. Alle Tiere werden sterben, da sie kein frisches Gras zum Weiden finden, und so wird es auch den räuberischen Löwen und Wölfen und anderem Getier, das von Raub lebt, an Nahrung mangeln. Und die Menschen werden nach vielem Widerstand gezwungen sein, ihr Leben zu lassen, und das Menschengeschlecht wird aussterben. Und so wird die fruchtbare, früchtetragende Erde verlassen bleiben und wüst, trocken und unfruchtbar, da der Saft des Wassers in ihrem Magen verschlossen ist. Und die kalte, zarte Luft wird im Element des Feuers vergehen müssen. Und dann wird ihre Oberfläche zu Asche verbrannt bleiben und das wird das Ende der irdischen Natur sein.

00:42:31: Ich schlage vor, dass wir mal kurz lüften hier übrigens, es ist …

00:42:34: Ja, sollen wir mal kurz lüften?

00:42:35: … warm und stickig und soll man sowieso machen.

00:42:41: Ich würde vielleicht ergänzen, ein bisschen um zu erzählen, wie diese Codices, diese Manuskripte aussehen. Die sind meistens verstreut von Notizen, die in alle möglichen Richtungen geschrieben sind. Oft weiß man nicht, wie man ein solches Folio in die Hand nimmt, weiß man nicht, in welche Richtung man sich zuerst stellen sollte, um das zu lesen. Nicht nur weil er umgekehrt geschrieben hat, also von rechts nach links, sondern einfach weil er die Notizen sozusagen so geschrieben hat, als ob diese Folien auf einem Tisch wären, und er läuft rund um den Tisch, und sozusagen der Kopf des Blattes ist immer ein anderer. Und dadurch, dass er immer wieder zurück auf bestimmte Themen gekommen ist, sind oft die Notizen selber auf einem Folio aus verschiedenen Zeiten, oft relativ nah dran aneinander, aber nicht unbedingt. Und das macht natürlich das gesamte Konvolut der Manuskripte, der Folien, der Notizen, der Codices von Leonardo als Block betrachtet ein extrem schwieriger Nachlass zu entziffern, aber auch ein sehr faszinierender. Man findet immer wieder unglaubliche Ideen da.

00:43:57: Und dies sei eine Sammlung ohne Ordnung, zusammengestellt aus vielen Papieren, die ich hier kopiert habe in der Hoffnung, sie an ihren jeweiligen Orten in eine Ordnung zu bringen, die den Gegenständen entspricht, von denen sie handeln.

00:44:12: Leonardos Notizen erinnern an heutige Hypertexte. Die Idee von Hypertexten war ja, einen Text nicht nur linear aufzubauen, sondern verschiedene Textelemente, aber auch Bildelemente in ganz verschiedenen, offenen Richtungen miteinander zu vernetzen, ein Netzwerk darzustellen. Und eigentlich kann man, wenn man auf Leonardos Notizen schaut, nur sagen: Genau das hätte ihm gefehlt, dann hätte er den ersten Hypertext geschaffen. Denn seine Notizen sind so vielfältig verknüpft, wie wir das idealerweise im Netz sehen würden. Das heutige Netz ist ja auch wieder stark diszipliniert auf eine ganz bestimmte Weise. Aber ich glaube, die ursprüngliche Vision des Webs war ja mal, ein Web des Wissens zu sein, ein Web, mit dem man ganz verschiedene Wissenselemente zusammenfügen und neu ordnen kann. Und eigentlich ist damit Leonardo mit seinen verstreuten, aber doch zusammenhängenden Notizen geradezu ein Vorbild für das, was aus dem Web als Web des Wissens noch heute werden könnte.

00:45:15: Der Berliner Leonardo ist ein reisender, ein sammelnder und ein lernender Leonardo. Wenn er sich uns heute so zeigt, dann offenbart sich durch diese Konturierung ein wesenhafter Teil …

00:45:30: Unus, una, unum.

00:45:31: … ein Teil eines Ganzen …

00:45:32: Totus, tota, totum.

00:45:33: … ein Ausschnitt der Person Leonardos, der wir uns nur anhand seiner Kunstwerke, Manuskripte und auch der Bücherlisten annähern können. Selber hat er ja, trotz aller Pläne, zu Lebzeiten keine Bücher veröffentlicht. Die Berliner Rekonstruktion lässt erkennen, wie sehr Leonardo verankert war in seiner Zeit, am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert, als sich der Wissenshorizont durch den Buchdruck revolutionierte.

00:46:04: Ich glaube, der Berliner Leonardo ist in erster Linie ein reisender Leonardo. Ein Reisender in seiner eigenen Zeit und dann, für uns betrachtet, auch sogar zurück in seine Vergangenheit und in seine Zukunft. Wir haben seine Lebensetappen aus einer wissenschaftshistorischen Perspektive neu evaluiert. Und wir haben gesehen, wir zeigen, wie er durch seine eigenen Bewegungen im Leben so von einem Ort zum nächsten, auch intellektuell sich bewegt von einem Thema zum nächsten bis zur gesamten Welt, bis zur Geografie, bis zur neuen Welt, die in dieser Zeit gerade bekannt wurde. So sind die Leute in der Zeit von Leonardo. Die haben was vor und die überlegen sich, wie sie das hinkriegen können. Aber die haben auch das Bewusstsein, dass sie Vieles erreichen können. Und das steht sehr stark im Zusammenhang mit dem Reisen und mit der Mobilität dieser Zeit. Und ich glaube unser Leonardo, am Ende, der Berliner Leonardo ist so ein reisender Mensch, der mit Vertrauen die Probleme und an die Idee seiner Zeit angeht, mit dem Vertrauen, dass sie sich weiterentwickeln können im positiven Sinne.

00:47:36: Und Bücher sind ja auch ein Mittel geistiger Bewegung und seine Bücher zu rekonstruieren, heißt auch sein Netzwerk von, wenn man so will, geistigen Korrespondenzen zu rekonstruieren. Wenn man Leonardo sozusagen jetzt nimmt als Ankerpunkt einer Perspektive, mit der wir uns selber betrachten, als einen fernen Spiegel sozusagen, dann sehen wir eine ganze Reihe von, wenn man so will, verpassten Möglichkeiten, aber auch von ungenutzten Chancen. Wir sehen, welche Utopien, welche Möglichkeiten Leonardo hatte, und welche davon für uns vielleicht heute erst realisierbar geworden sind. Und dieser Umgang mit Medien, mit der Vielfältigkeit des Wissens, auch mit seinen verschiedenen Repräsentationsformen, das ist die eine Seite. Spannungen nicht unter den Teppich zu kehren, auszuhalten, auszutragen, zu balancieren, das ist etwas anderes. Und dieses ständige Bemühen, diese Offenheit, sagen wir, die Bezugspunkte des Wissens immer wieder neu zu wählen, und die Koordinatensysteme zu verschieben, das ist ebenfalls etwas, was man bei Leonardo lernen kann. Und wenn man ihn ein bisschen von diesem Podest des einsamen Genies herunterholt und gerade in den Kontext seiner Zeit stellt, wie er mit Büchern gearbeitet hat. Nun gut, für die Zeit war das viel, aber jeder, der heute sagt, er hat eine Bibliothek, hat sicher ganz locker mal 50 bis 100 bis 200 Bücher darin, also sind wir doch in der Hinsicht mit Leonardo vergleichbar. Und wenn man jetzt den Zugang zum Internet noch dazunehmen, allemal haben wir mehr Zugriff auf Wissen als er. Machen wir was draus!

00:49:30: Wir danken Matteo Valleriani: und Jürgen Renn: für den Einblick in Leonardos verlorene Bibliothek und überlassen, wie es sich gehört, die letzten Worte Leonardo da Vinci. Sie stammen aus dem Codex Arundel. Leonardo demonstriert hier verschiedene Geometrieübungen zur Transformation sowie zur Längen- und Breitenbestimmung von unterschiedlichen Rechtecken. Aber auch dies bringt er nicht zu Ende, denn … ach, hören Sie einfach selbst.

00:50:00: Diese markierte Liste mit ihren Teilungen und Buchstaben vereint in sich die Werte dieser vier verschiedenen Parallelogramme „n“, „m“, „o“, „p“. Gib mir die Breite der Parallelogramme auf den Seiten „a“, „b“, „e“ und ich werde dir die Länge derselben Parallelogramme an den Winkeln „c“ und „d“ desselben Parallelogramms geben. Und umgekehrt, wenn du mir die Länge dieser Parallelen gibst, werde ich dir ihre Breiten geben … usw. Weil die Suppe kalt wird.

00:50:27: Er meint: Bleiben Sie in Bewegung!

00:50:35: Das war „Leonardos Bücherliste“ aus der Reihe Hinter den Dingen. 5000 Jahre Wissens¬geschichte zum Mitnehmen und Nachhören. Eine Produktion des Sonderforschungs¬bereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter. Ein Podcast mit Jürgen Renn: und Matteo Valleriani:. Stimmen: Friederike Kroitzsch, Matthias Dittmer: und Katharina Kwaschik. Renaissance-Flöte: Anna Fusek. Diese Folge ist in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und den Staatlichen Museen zu Berlin entstanden. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.