Hinter den Dingen

Transkript

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SOPHIE RUCH (gel. von Friederike Kroitzsch): Ein rätselhaftes Pyramidenfragment führt uns von den 4.000 Jahre alten Grabkammern im Alten Ägypten über die Entstehung der Sammlung des Ägyptischen Museums in Berlin bis zur detektivischen Arbeit eines Ägyptologen an der Freien Universität Berlin. Was bedeuten die Hieroglyphen auf dem Fragment? Wovon ist das Fragment ein Teil? Und was ist eigentlich das?

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN (gel. von Anne Hartleib): ˌʔim-ˈγaːma ʕanγanispaˈjːapajːa, ˈnaː͡tʃaʔ!, si͡tʃ-ˌ͡tʃu-ʔaˈriγta ʕanγanispaˈjːapajːa!

SOPHIE RUCH: Mein Name ist Sophie Ruch … 

ARMIN HEMPEL: … und meiner Armin Hempel …

SOPHIE RUCH: … und Sie hören: (Jingle) Hinter den Dingen. 5.000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören

SOPHIE RUCH: „Das verschwundene Pyramidenfragment“

Wir schreiben den 19. November 1889. In Berlin ist ein Bauboom ausgebrochen. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches entsteht vieles, was das Stadtbild bis heute prägt: Durch Lichterfelde fährt die erste elektrische Straßenbahn der Welt, das Rote Rathaus ist gerade fertiggestellt und der Reichstag befindet sich mitten im Bau.

Wir schreiben den 19. November 1889. In Berlin ist ein Bauboom ausgebrochen. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches entsteht vieles, was das Stadtbild bis heute prägt: Wir betreten die imposante Eingangshalle des Neuen Museums. Säulen aus hellem Marmor tragen die aufwändige Kassettendecke. Biegen wir durch die schwere Tür aus Palisanderholz rechts ab und betreten die Ägyptische Abteilung im Nordflügel des Museums. Über unseren Köpfen schwebt ein mächtiges Glasdach. Die Wände und Säulen sind reich und in prächtigen Farben mit Hieroglyphen und Bildern verziert. An den blauen Zwischendecken funkeln goldene Sterne.

Wir schreiben den 19. November 1889. In Berlin ist ein Bauboom ausgebrochen. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches entsteht vieles, was das Stadtbild bis heute prägt: Wir halten Ausschau nach unserem Pyramidenfragment. Gleich werden wir es sehen. Nur noch ein paar Schritte und wir stehen vor … einer leeren Vitrine?! 

Wir schreiben den 19. November 1889. In Berlin ist ein Bauboom ausgebrochen. In der Hauptstadt des deutschen Kaiserreiches entsteht vieles, was das Stadtbild bis heute prägt: Szenenwechsel! Berlin-Dahlem, im Sommer 2017. Armin besucht den Ägyptologen Stephan Hartlepp vom Sonderforschungsbereich „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin.

ARMIN HEMPEL: Hallo Stephan! Erstmal vielen Dank, dass Du Dir Zeit für uns nimmst, und ich Dich bei Deiner Arbeit begleiten darf. Du beschäftigst Dich mit der spannenden Geschichte eines verschwundenen Pyramidenfragments. Warum ist die Vitrine leer, und was war da früher mal drin?

STEPHAN HARTLEPP: Hallo Armin. Das Fragment wurde 1889 entwendet. Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein Stück Stein, welches aus einer Wand herausgebrochen wurde. Die genaue Gesteinsart und ob es noch Farbreste darauf gab, ist nicht bekannt. Auch zur Größe haben wir keine genauen Angaben, aber es wird schätzungsweise die Größe eines Notizheftes gehabt haben. Das, was wir sagen können, ist, dass es ca. 4.000 Jahre alt ist, und dass man 26 Hieroglyphen in drei Kolumnen angeordnet hat.

ARMIN HEMPEL: Aber woher weißt Du das denn, wenn Du das  Fragment gar nicht vorliegen hast?

STEPHAN HARTLEPP: Es gibt eine über 100 Jahre alte Publikation, „Die Aegyptischen Inschriften aus den Königlichen Museen zu Berlin“, wo unser Objekt mit der Inventarnummer 7495 im ersten Band erscheint. Dieser Band wurde von Heinrich Johann Schäfer, dem späteren Direktor des Ägyptischen Museums bearbeitet. Schäfer konnte das Objekt leider nicht mehr im Original sehen und musste seine Abschrift von einer Abschrift machen.

ARMIN HEMPEL: Ach damals war es auch schon weg …? Du hast gesagt, auf dem Fragment sind 26 Hieroglyphen. Ist es denn möglich, die zu entziffern? Und weißt Du, was die bedeuten?

STEPHAN HARTLEPP: Zweimal kann man einen Namen lesen, der auf der Basis des Eigennamens des Königs Pepi I. gebildet wird: Anchesenpepi …

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ʕanγanispaˈjːapajːa  

STEPHAN HARTLEPP: … Neben diesem Namen sind noch andere Begriffe zu sehen. Darunter zwei, die eine Sinneinheit bilden: mesket sehedu …

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: masqˁaʔ-siˈħuːtˁa!

STEPHAN HARTLEPP: mesket sehedu kann man vielleicht mit ‚Milchstraße‘ übersetzen. Das, was es auf alle Fälle ist, ist ein Bereich im Himmel mit sehr vielen Sternen.

ARMIN HEMPEL: Hast du denn eine Idee, wovon das Fragment ein Teil ist, woher es vielleicht stammen könnte?

STEPHAN HARTLEPP: Interessanterweise haben wir neben dem Namen nur vier weitere Begriffe. Und doch ist es uns möglich, diesen Textschnipsel nahezu zu hundert Prozent einem ganz bestimmten Text zuzuordnen. Und dieser Text ist Teil des Pyramidentextcorpus. Diese Texte wurden ursprünglich an die Grabwände der unterirdischen Grabanlagen von Pyramiden angebracht.

SOPHIE RUCH: Entschuldigt! Einen Augenblick.

SOPHIE RUCH: Es wird die letzte Passage noch einmal zurückgespult und dann erneut abgespielt

STEPHAN HARTLEPP: „… ist Teil des Pyramidentextcorpus“

STEPHAN HARTLEPP: (Jingle) Die Expertenminute

PROF. JOCHEM KAHL: Die Pyramidentexte sind das älteste erhaltene religiöse Textgut der Menschheit. Ihre erste uns bekannte schriftliche Bezeugung stammt aus der Pyramide des ägyptischen Königs Unas um 2350 v. Chr. Daher auch der Name „Pyramidentexte“. Sie wurden von da an mehr als 2.500 Jahre im Alten Ägypten überliefert, nicht nur in Pyramiden, sondern auch in Gräbern, auf Statuen, Stelen, Särgen oder Sarkophagen, und sie weisen damit eine längere Tradition auf als die Bibel. Diese Texte, von denen viele Ritualsprüche sind, dienten dem Himmelsaufstieg des verstorbenen Königs. Sie wurden ursprünglich anlässlich seines Begräbnisses rezitiert und sollten insbesondere seine Aufnahme in die Göttergemeinschaft garantieren. Im Laufe der Geschichte wurden sie auch von Königinnen und hohen Beamten genutzt. Derzeit sind uns mehr als 800 Pyramidentextsprüche bekannt, wobei ein Spruch einen Umfang von wenigen Zeilen bis zu einer DIN A5-Seite in Übersetzung haben kann.

SOPHIE RUCH: Sagt Professor Jochem Kahl, Experte für Altägyptische Philologie an der Freien Universität Berlin.

SOPHIE RUCH: Stephan Hartlepp beschäftigt sich also mit einem Stück Stein, das es gar nicht mehr gibt. Es wurde im vorletzten Jahrhundert aus dem Neuen Museum in Berlin entwendet. Auf dem Fragment befinden sich insgesamt 26 Hieroglyphen, die auf einen Pyramidentextspruch hindeuten. 

STEPHAN HARTLEPP: Die Pyramidentextsprüche beginnen im Idealfall mit dsched meddu …

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ˌ͡tʃˁitˁ-muˈtˁuwːa :

STEPHAN HARTLEPP: … was sozusagen ‚Rezitation‘ bedeutet. Dies hat es uns auch erleichtert, die Pyramidentextsprüche zu separieren, so dass man sie heute durchzählen kann. Unser Text ist Teil des Pyramidentextspruches 262.

ARMIN HEMPEL: Außer dem Namen Anchesenpepi sind aber nur vier Wörter auf dem Fragment zu lesen. Und Du bist Dir trotzdem sicher – obwohl Du nur so wenige Informationen hast – dass es genau zu diesem Pyramidentextspruch gehören muss?

STEPHAN HARTLEPP: Man kann sich das vorstellen: Man hat einen Schnipsel eines Romans, von einer einzigen Romanseite. Jede Seite stellt einen Pyramidentextspruch dar. Und man hat jetzt diesen Schnipsel, und auf diesem Schnipsel sind fünf Reste von Zeilen. Und man hat vier, fünf, sechs Begriffe. Und die Wahrscheinlichkeit, dass diese Kombination aus diesen Begriffen, zwei, drei, vier Mal in diesem Roman vorkommt, ist einfach sehr gering, so dass man diesen Schnipsel dieser Romanseite oder besser gesagt diesem Roman wirklich zuordnen kann.

ARMIN HEMPEL: Es sei denn, die Worte, die man dort findet, sind dann ‚und‘, ‚der‘ oder ‚im‘ …

STEPHAN HARTLEPP: Genau. Da haben wir bei unserem Fragment sehr viel Glück, denn dieses mesket sehedu findet sich nur in zwei Pyramidentextsprüchen. Und in Kombination mit den beiden anderen Begriffen nehi – ‚entgehen‘, ‚verschonen‘ – und perri – ‚herausgehen‘ –, kann man ganz einfach einen der beiden ausschließen und den anderen zuordnen.

ARMIN HEMPEL: Auf dem verschwundenen Fragment stehen also definitiv einige Worte dieses Pyramidentextspruches 262. Wie bist Du denn überhaupt darauf gekommen, Dich mit diesem Fragment zu beschäftigen?

STEPHAN HARTLEPP: Ich bin durch die unveröffentlichte Doktorarbeit eines österreichischen Kollegen, Roman Gundacker, auf dieses Fragment gestoßen. Falls es gelingen würde, dieses Objekt einer Königin oder einer Pyramide zuzuordnen, dann wäre dies für meine eigene Forschung wichtig.

ARMIN HEMPEL: Und ganz konkret: Was sind die Fragen, die Du Dir in Bezug auf das Fragment stellst?

STEPHAN HARTLEPP: Ganz einfach, wer war diese Person, die auf diesem Fragment erwähnt wird? Aus dem Alten Reich haben wir die Belege für Anchesenpepi I–IV. Jedoch kann es auch immer noch eine fünfte Königin des gleichen Namens sein, oder aber eine Privatperson, die bspw. im Totenkult des Königs tätig war.

ARMIN HEMPEL: Aber Anchesenpepi V. ist noch nicht belegt? Und das könnte dann heißen, dass wir uns auf der Suche nach einer neuen, bisher noch nicht entdeckten Pyramide befinden?

STEPHAN HARTLEPP: Das hängt ganz davon ab, wer die auf dem Fragment erwähnte Anchesenpepi ist.

STEPHAN HARTLEPP: Und genau das versuche ich jetzt zu klären.

ARMIN HEMPEL: OK.

SOPHIE RUCH: Stephan wird eine Weile brauchen, um die Identität der auf dem Fragment erwähnten Anchesenpepi zu klären. Das verschafft uns die Gelegenheit, etwas mehr über die Pyramidentextsprüche und deren Funktion zu erfahren. – Herr Professor Kahl?

PROF. JOCHEM KAHL: Die hauptsächliche Funktion der Pyramidentextsprüche war, dem verstorbenen König den Himmelsaufstieg zu gewährleisten, seine Aufnahme in die Göttergemeinschaft zu sichern, die Teilnahme am Lauf der Sonnenbarke und damit am Fortlauf der Welt zu garantieren. Zusätzlich hatten manche der Sprüche auch einen Schutzfaktor, wenn man so sagen kann, es waren Sprüche gegen Schlangen beispielsweise, gegen andere gefährliche Wesen, und das Aufzeichnen dieser Sprüche auf den Wänden sollte diese dauerhafte Wirksamkeit der Sprüche garantieren.

SOPHIE RUCH: Und bei dem Begräbnisritual wurden die Pyramidentextsprüche rezitiert?

PROF. JOCHEM KAHL: Es gab dann bestimmte Priester, die sogenannten Vorlesepriester, die eben diese Texte vortrugen.  Diese Vorlesepriester werden von uns heute mit diesem Namen bezeichnet, altägyptisch hießen sie Cheri-habet, also wörtlich ‚der mit der Festrolle‘.

SOPHIE RUCH: Hören wir nun in den Pyramidentextspruch 262 hinein, basierend auf einer Übersetzung von Dr. Roman Gundacker aus Wien.

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Rezitation:

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Verkenne nicht Anchesenpepi, o Re, denn du kennst Anchesenpepi! 

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Lasse nicht zu, dass dich Anchesenpepi verkenne, o Re, denn Anchesenpepi kennt dich!

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Sie möge zu dir „Größter der Gemeinschaft der Versorgten, Herr der Menschheit“ sagen!

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Verkenne nicht Anchesenpepi, o Thot, denn du kennst Anchesenpepi! 

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Lasse nicht zu, dass dich Anchesenpepi verkenne, o Thot, denn Anchesenpepi kennt dich!

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Sie möge zu dir „Der alleine ruht“ sagen!

SOPHIE RUCH: Die verstorbene Anchesenpepi wird hier reihum den Göttern vorgestellt. Sie ist auf dem Weg, ein Teil dieser göttlichen Gemeinschaft zu werden.

PYRAMIDENTEXTSPRUCH 262: Anchesenpepi passierte das Haus jenes Bas und somit entkam Anchesenpepi der Gewalt des Großen Sees. Anchesenpepi setzte über in der großen Barke, ohne dass in ihr ihr Fährgeld angenommen worden wäre, und ohne dass der Weiße Palast der Großen sie von der Milchstraße der Sterne ferngehalten hätte. Siehe, Anchesenpepi, sie hat die Höhe des Himmels erreicht, und Anchesenpepi hat das Sonnenvolk gesehen!

SOPHIE RUCH: Hier tauchen wir ein in die Vorstellungen der Alten Ägypter darüber, was nach dem Tod geschieht: So steht beispielsweise der „große See“, der im Text erwähnt wird, für die Einbalsamierung.

SOPHIE RUCH: Wenn es heißt, „Anchesenpepi passierte das Haus jenes Bas“, so hat sie ihren Körper verlassen und steigt nun in den Himmel auf. Nach altägyptischen Glaubensvorstellungen setzt sich nämlich die Königin aus verschiedenen Wesenheiten zusammen, den sogenannten ‚Ka‘ und ‚Ba‘, die nach dem Tod der Königin zum ‚Ach‘ verschmelzen.

PROF. JOCHEM KAHL: Im weitesten Sinne können wir das vielleicht mit christlicher Religion und einer Seelenvorstellung vergleichen. Beim Ka ist es eben so, dass er als eine Art Lebenskraft im Grab den Kontakt mit dem Diesseits hielt, und zwar an einer an der Grabwand angedeuteten Tür. Dann gibt es die andere Wesenheit, das ist der Ba. Der konnte sich nach altägyptischer Vorstellung komplett vom Leichnam, vom Sarg und auch vom Grab lösen und entfernen. Und dann gibt es noch den sogenannten Ach. Und der Ach, das ist eben die Form des Verstorbenen, die  nach verschiedensten Ritualen, die wir als Verklärungen kennen, das sind insbesondere gesprochene Texte, eine – wenn man so möchte – Verwandlung des Verstorbenen zu einem Mitglied der Göttergemeinschaft bezeichnet.

SOPHIE RUCH: Auf unserem Fragment befinden sich also einige Worte aus dem Verklärungsritual für Anchesenpepi. Nur wissen wir aber immer noch nicht, um welche der vielen Anchesenpepis es sich handelt? Gibt es Neuigkeiten, Armin?

ARMIN HEMPEL: Da frage ich gleich mal nach. – Stephan, konntest du das Fragment schon einer der Anchesenpepis zuordnen?

STEPHAN HARTLEPP: Nicht ganz, aber der Reihe nach. Wir haben vier belegte Anchesenpepis, eine neue fünfte Königin oder eine Privatperson. Das Grab von Anchesenpepi I. wurde bislang noch nicht gefunden, die Königin hat es aber zweifelsohne gegeben. Unser Fragment könnte aus einer frühen Plünderung ihres Grabes stammen. Der Ort des Grabes ist nicht mehr bekannt. Auch Roman Gundacker geht in seiner Doktorarbeit von dieser Theorie aus und ordnet das Fragment Anchesenpepi I. zu. Ich bin da eher skeptisch.

ARMIN HEMPEL: Ein geplündertes und heute verschollenes Grab … klingt abenteuerlich. Wie ist es denn mit Anchesenpepi II.?

STEPHAN HARTLEPP: Da warte ich noch auf Antwort. Die Pyramide von Anchesenpepi II. wurde 1998 von der MafsS – der Mission archéologique franco-suisse de Saqqâra – entdeckt. Diese Forschergruppe ist seit den 60er Jahren in Sakkara aktiv. Sakkara liegt ungefähr 20 km südlich von Kairo und ist einer der wichtigsten Orte in Ägypten. Hier befinden sich alle Pyramiden, in denen Pyramidentexte gefunden wurden. Ich habe jetzt Kontakt zur MafsS aufgenommen, speziell zu Dr. Bernard Matthieu, der mit der Rekonstruktion der Pyramidenanlage von Anchesenpepi II. betraut wurde.

ARMIN HEMPEL: Das klingt vielversprechend – und könnte ja ein Treffer sein. Und –  davon mal abgesehen – wie sieht es mit den nachfolgenden Anchesenpepis aus?

STEPHAN HARTLEPP: Die Gräber von Anchesenpepi III. und IV. sind bekannt und erforscht. In beiden Grabkammern gab es keinerlei Pyramidentexte an den Wänden. Die kommen also nicht in Frage.

ARMIN HEMPEL: Bleibt also noch die bisher unentdeckte Pyramide?

STEPHAN HARTLEPP: Es bliebe auch die Variante, dass es sich um eine Privatperson handelt. Zunächst fanden die Pyramidentextsprüche ja nur bei den Königen und Königinnen Verwendung. Später bekamen dann auch Privatpersonen das Privileg diese Texte zu nutzen. Aber natürlich könnten wir auch auf der Suche nach einer bislang unentdeckten Pyramide einer unbekannten fünften Königin dieses Namens sein.

ARMIN HEMPEL: Und das ist wirklich möglich? Ich war ja noch nie auf so einem Ausgrabungsgelände wie in Sakkara. Du meinst, es kann wirklich sein, dass da eine ganze Pyramide bislang übersehen wurde?

STEPHAN HARTLEPP: Nun, man muss sich das so vorstellen, dass man eine große Pyramide hat – die des Königs. Aber um die Hauptpyramide sind noch andere Grabstätten: Es gibt kleinere Pyramiden von Königinnen und Prinzen und dann gibt es auch noch kleinere Privatgräber. Heutzutage sieht man bspw. von den Königinnenpyramiden die Spitzen, sprich die oberen Teile von den Grabanlagen, kaum noch, weil sie abgetragen worden sind.

ARMIN HEMPEL: Verstehe. Wenn es sich also um die bisher unentdeckte Pyramide von Anchesenpepi V. handeln sollte, wäre der oberirdische Teil einfach nicht mehr zu sehen. — Ok. Also sind wir bei der Zuordnung unseres verschwundenen Pyramidenfragments aber doch noch nicht am Ziel. Da gibt’s ja immer noch viele Möglichkeiten. Hoffen wir, dass uns Deine Anfrage bei der  Forschergruppe in Frankreich jetzt einen Schritt weiterbringt.

STEPHAN HARTLEPP: Genau. Bis dann!

SOPHIE RUCH: Zeitsprung. Die Beerdigung der Anchesenpepi. Im flackernden Schein der Fackeln schimmern grün-bläulich die Hieroglyphen, mit denen die Wände der Grabkammer dicht beschrieben sind. Am Ende der Kammer steht der dunkelblaue massive Sarkophag mit der einbalsamierten Leiche. Und über dem Sarkophag ist die spitz zulaufende himmelblaue Decke, bemalt mit unzähligen golden funkelnden Sternen. Neben dem schmalen Eingang zur Kammer knien zwei Priester. Sie sind mit einem roten Lendenschurz und mit einer Schärpe, die quer über die Schulter gebunden ist, bekleidet und tragen eine schulterlange Perücke. Sie geben ein tiefes Brummen von sich und schlagen sich dabei rhythmisch mit der flachen Hand auf die Brust. Nun betritt die Vorlesepriesterin den Raum …

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ˌ͡tʃˁitˁ-muˈtˁuwːa :

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ˌʔim-ˈγaːma ʕanγanispaˈjːapajːa, ˈnaː͡tʃaʔ!, si͡tʃ-ˌ͡tʃu-ʔaˈriγta ʕanγanispaˈjːapajːa!

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ʔim-ˌraːtˁa-ʔaγˈmaː-͡tʃu ʕanγanispaˈjːapajːa, ˈnaː͡tʃaʔ!, si͡tʃ-ʕanγanispaˈjːapajːa riγˈtaʔ-͡tʃu!

ʔa͡tʃˁˌtˁas-ʔaˈrak : ˈsik!

ʔa͡tʃˁˌtˁas-ʔaˈrak : ʔim-ˌraːtˁa-ʔaγˈmaː-͡tʃu ʕanγanispaˈjːapajːa, ͡tʃˁaˈħawti!, si͡tʃ-ʕanγanispaˈjːapajːa riγˈtaʔ-͡tʃu!

ʔa͡tʃˁˌtˁas-ʔaˈrak : ʃatˁiˈnaː-si ʃiˌnuːjaʔ-ˈpiʔ, sajˈʕaːsun ʕanγanispaˈjːapajːa ni-ˈriːʕu!

ARMIN HEMPEL: Danke, Anne!

ANNE HARTLEIB: Ja gern! Hat Spaß gemacht.

SOPHIE RUCH: Das war ein Ausschnitt aus Pyramidentextspruch 262. Diese Tonaufnahme ist eine kleine Sensation. Denn wir wissen so gut wie nichts darüber, wie sich die ägyptische Sprache zu Anchesenpepis Zeiten angehört hat. Zwar sind die Hieroglyphen – in Stein gemeißelt – über die Jahrtausende erhalten geblieben. Und wir sind heute auch in der Lage, das Altägyptische zu lesen und zu schreiben. Doch wie die Wörter geklungen haben, ist uns ein Rätsel. Dennoch wagt sich weltweit eine Handvoll Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran, den Klang der altägyptischen Sprache auch heute wieder hörbar zu machen. Unsere altägyptische Fassung wurde eigens von Roman Gundacker angefertigt, dessen Doktorarbeit Stephan inspiriert hat, das Fragment zu suchen. Doktor Gundacker ist Ägyptologe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Institut für orientalische und europäische Archäologie und Dozent an der Universität Wien.

DR. ROMAN GUNDACKER: Roman Gundacker

ARMIN HEMPEL: Hallo, Herr Gundacker, und vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben! Sie rekonstruieren den Klang der altägyptischen Sprache. Das ist eine Sprache, die schon seit mehreren Jahrtausenden nicht mehr gesprochen wird. Ich frage mich da: Warum tun Sie das?

DR. ROMAN GUNDACKER: Nun, ich denke, was man sich ganz besonders vor Augen halten muss, ist, dass man dadurch einen Schritt näher an den Quellen und an den Personen, die in den Quellen reflektiert sind, dran ist. Man bekommt also einen unmittelbareren, einen direkteren Eindruck von der damaligen Kultur, auch von den damaligen Umständen. Und wenn man Dinge wie Wortspiele oder dergleichen bedenkt, auch von Denkmustern, vielleicht ein Stück weit von Humor, aber auch von Stilempfinden und ähnlichem der damaligen Zeit. Aus einer anderen Hinsicht ist das Ganze aber auch für den Fortgang der Wissenschaft von größter Bedeutung, weil viele Texte durch Wortspiele einen Doppelsinn tragen. Und oftmals kann man diesen Doppelsinn aber nur erschließen, wenn man dieses Wortspiel oder den Gleichklang von Wörtern tatsächlich wahrnehmen und verstehen kann. Also es fördert auch das Verständnis der Texte.

ARMIN HEMPEL: Und welche Hinweise haben Sie darauf, wie die Alten Ägypter geklungen haben könnten – vor allem, weil die meisten Vokale in der Hieroglyphenschrift ja überhaupt nicht vorkommen?

DR. ROMAN GUNDACKER: Die Hinweise kommen zum Teil natürlich aus dem Koptischen, also der allerjüngsten Stufe des Ägyptischen, die allerdings schon 2.000 Jahre nach den Pyramidentexten liegt, teilweise sogar mehr als 2.000 Jahre, und für die Zeit davor aus der sogenannten Nebenüberlieferung, also wenn ägyptische Wörter in den Schriftsystemen anderer Sprachen wie zum Beispiel Griechisch oder Hebräisch oder auch in der Keilschrift notiert wurden.

ARMIN HEMPEL: [00:22:12.30]Und was war bei der Rekonstruktion unseres Textes, unseres Pyramidentextspruches die größte Herausforderung für Sie?

DR. ROMAN GUNDACKER: Wenn man, so wie die Aufgabe von Ihnen gestellt wurde war, einen Text zu rekonstruieren, dann ist teilweise die Schwierigkeit, einzelne Wörter zusammenzufügen oder einzelne Wörter überhaupt zu rekonstruieren, also die Vokale für sie zu finden und sich zu überlegen, wie unter diesen speziellen Bedingungen die Konsonanten geklungen haben könnten.

ARMIN HEMPEL: Hätten Sie dafür vielleicht ein Beispiel?

DR. ROMAN GUNDACKER: Wenn man an das Lateinische denkt, so wurde mit der Zeit der Laut K, der mit dem C geschrieben ist, vor Vokalen wie I oder E anders ausgesprochen, was im Italienischen im „cé“ resultiert, also ein aus „Kaiser“ wurde „Cäsar“ und so weiter. Ähnliche Phänomene gab es im Ägyptischen natürlich auch. Für die frühesten Phasen fehlen Nebenüberlieferungen und da bleibt es auch wirklich reine Theorie. Also es bleibt sehr viel der Wissenschaft überlassen und so manches wird noch bewiesen oder zumindest gefestigt werden müssen.

ARMIN HEMPEL: Vielen Dank, Herr Gundacker!

SOPHIE RUCH: Jetzt aber zurück zu Stephan Hartlepp. Da bin ich gespannt, ob es Neuigkeiten vom französischen Forscherteam gibt und ob wir nun Klarheit über die Zuordnung unseres Pyramidenfragments zu einer Anchesenpepi haben.

ARMIN HEMPEL: Und? Hast Du Antwort von Deinem Kollegen aus Frankreich erhalten?

STEPHAN HARTLEPP: Ja, Dr. Bernard Matthieu hat mir geantwortet. Im Grab von Anchesenpepi II. befindet sich der Pyramidentextspruch 262 an der Südwand. Und in seiner Rekonstruktion fehlt der Teil mit mesket sehedu tatsächlich noch.

ARMIN HEMPEL: Aber?

STEPHAN HARTLEPP: Aber wir müssen diese Königin leider auch ausschließen, denn die Leserichtungen der Hieroglyphen stimmen nicht überein. Die Hieroglyphen an der Südwand der Grabkammer werden von rechts nach links gelesen, während sie auf unserem Fragment von links nach rechts zu lesen sind.

ARMIN HEMPEL: Was? Verstehe ich das richtig, dass man Hieroglyphentexte in verschiedene Richtungen schreiben und lesen kann?

STEPHAN HARTLEPP: Genau. Die Eigenheit der Hieroglyphenschrift ist, dass man einen Text zum einen in Zeilen oder in Kolumnen anordnen kann und dass man dann die Hieroglyphen entweder links oder rechts gerichtet anordnen kann. Das heißt, man kann einen Text von links nach rechts lesen oder auch von rechts nach links.

ARMIN HEMPEL: Und denkst Du, dass es sein kann, dass der Spruch vielleicht mehrfach in der Pyramide vorkam, einmal von links nach rechts geschrieben und vielleicht einmal von rechts nach links?

STEPHAN HARTLEPP: Das ist unwahrscheinlich, da dieser Pyramidentextspruch pro Grabanlage immer nur einmal verwendet wurde.

ARMIN HEMPEL: Also, Anchesenpepi II. ist damit dann auch ausgeschlossen. Fällt Dir noch irgend etwas ein, was Du tun kannst, um vielleicht doch noch herausbekommen, woher das Fragment stammt?

STEPHAN HARTLEPP: Ich kann mal Kontakt zum Ägyptischen Museum hier in Berlin aufnehmen, da das Fragment Teil der Sammlung war. Vielleicht gibt es ja noch unpubliziertes Archivmaterial.

SOPHIE RUCH: Während Stephan per E-Mail eine Anfrage ans Archiv stellt, macht Armin sich auf den Weg ins Neue Museum. Dort, wo das Fragment 1889 verschwunden ist, haben wir bisher tatsächlich noch gar nicht nachgefragt.

SOPHIE RUCH: Das 2009 wiedereröffnete Neue Museum. Die Bruchstücke des Gebäudes, die den Zweiten Weltkrieg überdauert haben, sind umgeben von modernem Ziegelmauerwerk. Steigen wir die majestätische Treppe in der Eingangshalle hinauf. Links und rechts führen vergleichsweise unauffällige, schmale Türen zu der Ägyptischen Sammlung. Ein neues Glasdach schwebt über den Ausstellungsräumen. Im Ägyptischen Hof stehen die in ihrer Naturfarbe belassenen Baumaterialien mit ihren glatten und schlichten Oberflächen im Kontrast zu den bunt bemalten und verzierten Bruchstücken des Vorgängerbaus. Ein Dialog der Epochen und Ausstellungskonzeptionen.

SOPHIE RUCH: Wir treffen Dr. Olivia Zorn, die Stellvertretende Direktorin des Ägyptischen Museums und der Papyrussammlung.

ARMIN HEMPEL: Guten Tag, Frau Zorn. Das Ägyptische Museum in Berlin wurde 1855 eröffnet. War unser Fragment gleich von Anfang an mit dabei?

DR. OLIVIA ZORN: Nein, das Fragment wurde erst 1875 in Kairo erworben und konnte deshalb 1855 auch noch nicht ausgestellt werden.

ARMIN HEMPEL: Und wie ist die Berliner Sammlung entstanden, wer hat sie konzipiert?

DR. OLIVIA ZORN: Ja, die Sammlung reicht ja eigentlich bis in die kurfürstlichen Kunstkammern zurück. Die ersten Ägyptiaka kamen schon 1698. Dann kam aber Guiseppe Passalacqua, ein italienischer Pferdehändler, der aus Ägypten auch sehr viele Objekte mitbrachte, und er ist eigentlich – könnte man schon sagen – der Vater des Ägyptischen Museums. Und er verkaufte dann seine Sammlung an den preußischen König, der einen Deal mit ihm machte, weil die Sammlung war zu teuer am Markt. Und dann sagte Passalacqua, er geht mit dem Preis um die Hälfte herunter, unter der Bedingung, dass er Direktor des Hauses auf Lebenszeit wird. Und das ist eigentlich auch die Geburtsstunde des Museums für eine öffentliche Präsentation und damit begann auch die Ausgestaltung im Neuen Museum. Da legte zunächst Guiseppe Passalacqua tatsächlich eine Ausgestaltung der Räume vor. Allerdings der junge, aufstrebende erste deutsche Ägyptologe, Richard Lepsius, war nicht begeistert von Passalacqua und setzte sich ihm gegenüber durch. Er war Vizedirektor und war dann eigentlich auch maßgeblich beteiligt für die Ausgestaltung des Ägyptischen Museums.

ARMIN HEMPEL: Und für diese Ausgestaltung wurden ja sicherlich in Ergänzung zu der bereits vorhandenen Sammlung dann unzählige Exponate gebraucht, um die Ausstellungsräume zu füllen. Dafür war dann Richard Lepsius zuständig?

DR. OLIVIA ZORN: Ja, Richard Lepsius war vom jungen preußischen König Friedrich Wilhelm IV. auf eine mehrjährige Expedition nach Ägypten und in den Sudan geschickt worden. Und er leitete eben von 1842–45 diese Expedition als wirklich noch ganz junger Forscher und brachte von dort ungefähr 1.500 ägyptische Originale als Geschenk des ägyptischen Khediven Mohammed Ali an den preußischen König zurück.

ARMIN HEMPEL: Können Sie uns etwas darüber erzählen, wie sich eine solche Expedition zusammensetzte?

DR. OLIVIA ZORN: Im 19. Jahrhundert gab es ja noch keine etablierte Ägyptologie. Das heißt also, Richard Lepsius war der einzige Ägyptologe in dieser Crew. Ansonsten waren es vor allen Dingen Zeichner und Architekten.

SOPHIE RUCH: Wenn wir nachvollziehen wollen, wie unser Fragment nach Berlin gelangen konnte, dann müssen wir die Begründer der modernen Ägyptologie auf eine ihrer Expeditionen begleiten. Einer von ihnen war Georg Gustav Erbkam, ein 31 Jahre alter Architekt und Bauforscher. In sein Tagebuch notiert er am 1. Dezember 1842:

TAGEBUCHEINTRAG VON GEORG GUSTAV ERBKAM (Gel. von Matthias Kelle): Heut früh war ein erster Berliner Herbsttag; kalt, und dichter Nebel lag über der ganzen Gegend; die Pyramiden waren gänzlich verschwunden […] um ½ 8 Uhr im Finstern ward beschlossen, das Innere der 2ten Pyramide zu besichtigen. Lampen und Lichter werden vertheilt und nun geht es in der Finsterniß auf, für mich wohlbekannten, Pfaden nach dem Plateau. Mit Mühe wird der Schutthaufen erklommen und der Eingang ist erreicht; meine Schuhe (ich gehe jetzt immer ohne Strümpfe) lasse ich draußten und gebückt geht es nun den abschüssigen mit Granit […] sauber ausgelegten Gang hinab; die Fugen sind mit Kalk oder Gips gemauert. Schwache rothe Linien sind die einzige Spur, die von Egypterhänden auf der weißen Fläche zu haften scheinen. […] Gegen die Nähe der Kammer hin kam eine große Menge Fledermäuse uns entgegengeschwirrt […]. Endlich traten wir in die sehr geräumige hohe Kammer, wo die großen Blöcke des Fußbodens, die man aufgebrochen, in wilder Unordnung umherlagen. Gegen Westen stand der granitne, sauber und glatt gearbeitete große Sarkophag, der bis zum Deckel eingemauert war […]. Vor Belzoni, der im März 1818 den Eingang in diese Pyramide fand, war der Sarg schon geplündert. Hieroglyphen keine Spur. […] Die ganze Kammer hatte eine schräge zeltartige Decke […]. Nachdem wir dieß Alles genau beobachtet, traten wir den Rückweg an. Wo der schräge Gang aufwärts führt, geht ein 2ter Gang schräg abwärts in eine 2te Kammer […]; doch ist der Zugang daselbst verschüttet. Lepsius und viele der Andern krochen noch hier hinein […]; für mich war es zu viel und nachdem ich mit meiner Lampe an die Decke des Ganges meinen Namen geschrieben, kam ich glücklich wieder am Eingange an, und kehrte […] heim, wo dann noch warmer Thee zum Beschluß dieser Nachtfahrt gereicht wurde.

ARMIN HEMPEL: Frau Zorn, wie entschied Lepsius denn, was konkret von diesen Expeditionen mitgebracht werden sollte? Und wie wurde die Sammlung dann aus den mitgebrachten Artefakten konzipiert?

DR. OLIVIA ZORN: Lepsius hatte sich vorab tatsächlich auch eine Liste gemacht, was er sich gerne ansehen möchte und was er vielleicht auch gerne im Original mitbringen wollte. Lepsius wollte einfach, dass sich die Besucher so fühlen, als wenn sie ein ägyptisches Grab oder einen ägyptischen Tempel betreten.

SOPHIE RUCH: Wie er dieses unmittelbare Erleben im Neuen Museum erreichen wollte, beschreibt er in einem Brief am 11. Juli 1845 aus Kairo nach Berlin:

AUSZUG AUS EINEM BRIEF RICHARD LEPSIUS’ (Gel. von Marcus Anhäuser): Es wird sich nicht leicht, jemals wieder eine so günstige Gelegenheit finden, bei der ersten Einrichtung eines Museums so sehr alle Mittel zur Hand zu haben, ein in jeder Hinsicht wahrhaft Ganzes zu schaffen und zugleich dem Publikum so viel Neues und Bedeutendes in Plan, Material und Anordnung zu bieten, wie bei der Einrichtung des ägyptischen Museums. Jeder Tempel, jedes Grab, jede Palastwand war bei den Aegyptern von oben bis unten mit gemalten Skulpturen oder mit Bildern geschmückt. Es würde sich zuerst fragen, in welchem Style man diese Bilder auszuführen hätte. Es können nun entweder freie Compositionen im griechischem Style, oder streng ägyptische Darstellungen, mit Vermeidung jedoch der ägyptischen Perspektive, also eine Art Uebersetzung […], oder […] reine, nur dem einzelnen Bedürfniß angepaßte Kopieen ächtägyptischer von uns gezeichneter Darstellungen sein. […] Es scheint mir […] die dritte […] Art allein übrig zu bleiben […].

SOPHIE RUCH: Lepsius wendet sich also gegen Wandbemalungen in antikisierendem Stil. Dies hätte zwar der Mode seiner Zeit entsprochen, mit den Originalmotiven der altägyptischen Malerei hätte es aber nicht viel zu tun gehabt. Ebenso ist er gegen eine ‚Übersetzung‘ der altägyptischen Malerei in die Sehgewohnheiten der Europäer des 19. Jahrhunderts. Er möchte die prächtigen Malereien, die er in den Pyramiden vorgefunden hat, so originalgetreu wie möglich an die Wände des Museums bringen. Im Grunde will er den zukünftigen Besuchern des Museums ein ähnliches Erlebnis bieten, wie es die Pioniere der Ägyptologie bei ihrer Entdeckung der Wandbemalungen hatten.

AUSZUG AUS EINEM BRIEF RICHARD LEPSIUS’ (Gel. von Markus Anhäuser): Die Decken in den Vorzimmern könnten blau mit goldenen Sternen sein, die gewöhnliche Darstellung des ägyptischen Himmels, und in den historischen Sälen die langen Reihen der breitbeschwingten Geier, der Symbole des Sieges, mit denen die meisten Decken der Tempel und Paläste unvergleichlich prächtig geschmückt sind. Endlich dürfte[n] auch […] hieroglyphische […] Inschriften nicht fehlen, die so wesentlich mit allen ägyptischen Darstellungen verbunden sind und in bunten Farben einen prachtvollen Eindruck machen.

DR. OLIVIA ZORN: Es gab aber tatsächlich Mitte des 19. Jahrhunderts auch schon unterschiedliche Museumskonzepte, das eine war eben, dass man versuchte, das Umfeld der Objekte möglichst detailgetreu nachzubilden, das war das was Lepsius (…) und auch in Wien gemacht wurde, andererseits – auch die Gestaltung von Lepsius wurde kurz nach der Eröffnung des Neuen Museums sehr stark kritisiert – ging dahin, die Objekte doch in den Vordergrund zu rücken und nicht ablenkende Dekorationen an die Wände zu machen. Also das war im 19. Jahrhundert durchaus schon verbreitet, diese sehr extremen Ausstellungskonzepte.

ARMIN HEMPEL: Und welchen konzeptionellen Ansatz verfolgen Sie dann heute? Versuchen Sie immer noch, die Besucher sozusagen ins Alte Ägypten eintauchen zu lassen?

DR. OLIVIA ZORN: Natürlich sollen die Besucher auch eintauchen und sie sollen auch Freude an einer Ausstellung haben. Nur wir rücken die Objekte jetzt natürlich in den Vordergrund und versuchen sie natürlich in ihrem Kontext zu erläutern. Aber nicht damit, dass wir die Wände dekorieren, so wie es halt im 19. Jahrhundert üblich war.

ARMIN HEMPEL: Vielen Dank für diesen spannenden Einblick in die Entstehungsgeschichte und die Ausstellungskonzeptionen des Neuen Museums in Berlin. Wenn wir jetzt nochmal zu unserem Fragment zurückkehren: Welche Gründe kann es denn dafür geben, dass es heute in der Sammlung fehlt?

DR. OLIVIA ZORN: Die Möglichkeiten sind, dass es wirklich gestohlen wurde. Wobei natürlich ein solches Fragment philologisch interessant ist, natürlich, aber natürlich nicht unbedingt für den Laien. Da gibt es sicherlich andere Objekte, die eher gestohlen worden sind. Andererseits: Natürlich könnte es entnommen worden sein und dann nicht zurückgekommen sein. Auch solche Fälle haben wir, dass Objekte entliehen wurden, an andere Sammlungen, zu Forschungszwecken, zu Ausstellungszwecken, und sind dann nicht mehr zurückgekehrt aus verschiedenen Gründen. Das würde ich nicht mehr als Raub oder Diebstahl bezeichnen. Nur dann haben wir tatsächlich konkrete Hinweise in unseren Inventarbüchern oder in unseren Akten, das besagt, wohin das Objekt ausgeliehen wurde oder, dass es jemand zu Forschungszwecken entnommen hat.

ARMIN HEMPEL: Könnte sich unser Fragment vielleicht sogar noch im Magazin des Museums befinden?

DR. OLIVIA ZORN: Aktuell führen wir eine Revision durch und haben auch noch Objekte tatsächlich gefunden, die wir schon als vermisst eingestuft hatten, aber das sind meistens Objekte, die im Zweiten Weltkrieg als vermisst deklariert waren.

ARMIN HEMPEL: Wenn bei der Revision noch immer Objekte gefunden werden – gibt es dann vielleicht noch unausgepacktes Material?

DR. OLIVIA ZORN: Also nicht ausgepackt würde ich so nicht sagen. Es ist ja einiges eingepackt worden zur Auslagerung während des Zweiten Weltkriegs oder kurz davor. Und das Material ist ja grundsätzlich vorher schon einmal gesichtet worden und eingeordnet worden. Wir haben natürlich noch Kisten, in denen diese Objekte, die schon bekannt sind, noch gemeinsam gelagert sind und noch nicht ausgepackt sind. Aber vor allen Dingen im Papyrusbereich. Da stammen tatsächlich noch so ungefähr 100 Kisten mehr oder weniger ungesichtet.

ARMIN HEMPEL: Und was würden Sie schätzen, wie lange das so dauern wird, das alles zu sichten?

DR. OLIVIA ZORN: Was jetzt den ägyptischen Bereich – also Statuen, Reliefs usw. – angeht, hoffen wir, dass wir unsere Generalrevision innerhalb von zwei Jahren jetzt noch den kommenden zwei Jahren abschließen können, dass wir schon sagen können, das Objekt gibt es wirklich nicht mehr, also dass wir jedes Objekt irgendwie zuweisen können. Im Bereich der Papyri schätze ich: 100 Jahre.

STEPHAN HARTLEPP: Armin. Ich habe eine E-Mail vom Archiv erhalten.

ARMIN HEMPEL: Bin gleich da! –– Bei Dir gibt’s Neuigkeiten?

STEPHAN HARTLEPP: Richtig. Frau Dr. Zorn hat mir die Archivdokumente zu unserem Fragment zugeschickt.

ARMIN HEMPEL: Frau Zorn? Ich war doch gerade noch … na, egal. Was hat sie denn geschickt?

STEPHAN HARTLEPP: Zum einen Auszüge aus den Archivbüchern, die alle handschriftlich sind, dann noch Objektzettel, auf dem sämtliche Informationen zu dem Objekt sind. Bei uns z. B. sind das zwei Zettel, die auch eine Kopie des Fragmentes enthalten.

ARMIN HEMPEL: Und was hat sich daraus für uns jetzt Neues ergeben?

STEPHAN HARTLEPP: Auf den ersten Blick scheint es nichts zu sein, aber auf den zweiten Blick ist da ziemlich viel drin, was für unser Fragment bedeutend ist. Das Material ist jetzt auch klar: Es muss Kalkstein gewesen sein, was da auch notiert ist. Farb- oder Stuckreste werden nicht erwähnt, so dass man davon ausgehen kann, dass diese nicht mehr vorhanden oder sichtbar waren. Zudem wissen wir jetzt die Ausmaße: Es ist ungefähr so groß wie ein DIN-A5-Blatt, 19 cm hoch und 15,5 cm breit.

ARMIN HEMPEL: Aber was hast Du jetzt rausgefunden? Suchen wir nun doch wieder nach der bisher unentdeckten Pyramide?

STEPHAN HARTLEPP: Vermutlich nicht. Aber dafür haben wir eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Nämlich, dass die einzige Publikation, sprich die Abbildung, die jedem Ägyptologen auf der Welt zur Verfügung steht, falsch ist. Denn diese Abbildung ist spiegelverkehrt. Was im Grunde für das Lesen der Hieroglyphen kein Problem ist. Jedoch haben wir aufgrund der Leserichtung eine Quelle ausgeschlossen, nämlich die Grabanlage von Anchesenpepi II. Der Pyramidentextspruch 262 an der Südwand der Grabkammer liest sich ja von rechts nach links. Und unser Fragment, wie wir jetzt wissen, auch!

ARMIN HEMPEL: Also ist die bekannte Grabanlage von Anchesenpepi II. wieder im Rennen?! Konntest Du das bereits mit den Ergebnissen der französischen Forschergruppe abgleichen?

STEPHAN HARTLEPP: Auch Bernard Matthieu hatte sich bereits mit unserem Fragment aus Berlin beschäftigt, hat es aber wie alle anderen Forscher aufgrund der Leserichtung verworfen. Aufgrund meiner aktuellen Forschungen und den Informationen, die ich ihm zur Verfügung gestellt habe, konnte er nun dieses Fragment in seine Rekonstruktion der Südwand der Grabkammer von Anchesenpepi II. einordnen.

ARMIN HEMPEL: Es passt dort hinein? Herzlichen Glückwunsch!

STEPHAN HARTLEPP: Danke! Und damit können wir jetzt fast alles rekonstruieren: Gesteinsart, Größe, die Farbe der Hieroglyphen und den genauen Fundort. Und wir können jetzt sagen, dass das Fragment ca. 4.300 Jahre alt ist.

ARMIN HEMPEL: Ok. Allerdings müsste ich jetzt schon nochmal ganz naiv nachfragen: Warum ist es nicht früher schon jemandem aufgefallen, dass es spiegelverkehrt abgedruckt wurde?

STEPHAN HARTLEPP: Ganz einfach: Wenn man nicht ahnt, dass es ein Problem gibt, sprich dass die Darstellung spiegelverkehrt ist, dann forscht man auch nicht nach. Und aus hieroglyphischer Sicht war die Darstellung nicht falsch. Man konnte sie lesen.

ARMIN HEMPEL: Also eigentlich nur ein ganz kleiner Fehler, den Du da aufgedeckt hast …

STEPHAN HARTLEPP: Ägyptologie und Forschung im Allgemeinen kommt sehr oft nur in kleinen Schritten voran. Wir haben es geschafft, dass dieses unscheinbare Fragment Forscher aus drei Nationen zum Nachdenken bewegt hat. Ein nicht mehr existentes Fragment, hat nun seinen ursprünglichen Platz an der Südwand der Grabkammer der Königin Anchesenpepi II. zurückgewonnen. Und ein kleines Problem in der Ägyptologie wurde gelöst. Meine Arbeit ist getan!

ARMIN HEMPEL: Dann hab ich auch keine Fragen mehr. Danke Stephan!

STEPHAN HARTLEPP: Sehr gern. Danke Euch!

SOPHIE RUCH: Ob unser Fragment nun in irgendeiner Kiste liegt, sich in einer Privatsammlung versteckt oder gar zerstört wurde – in jedem Fall existiert es in der Arbeit von Stephan Hartlepp. Ganze 128 Jahre nachdem es verschwunden ist, ist es ihm gelungen, das genaue Alter und den Herkunftsort des Fragments zu bestimmen.

SOPHIE RUCH: Wir schreiben das Jahr 2018. Auf der Museumsinsel in Berlin mischen sich seit geraumer Zeit erneut Baugeräusche unter den Straßenlärm. Das wiedererrichtete Stadtschloss hat klare Konturen angenommen. In seinem Inneren verspricht das Humboldt-Forum neue Schauräume, die das Wissen verschiedener Kulturen erfahrbar machen. Wieder sind Objekte und Sammlungen in Bewegung geraten, ganze Museen ziehen um. Und wieder ist ein heftiger Streit entbrannt um die geeigneten Präsentationsweisen für die Artefakte, die von vielen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte erzählen.

SOPHIE RUCH: Das war „Das verschwundene Pyramidenfragment“. Danke fürs Zuhören – bis zum nächsten Mal.

SOPHIE RUCH: Und – bleiben Sie in Bewegung.

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: ˌ͡tʃˁitˁ-muˈtˁuwːa :

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: (Jingle/Abspann)

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: Das war „Das verschwundene Pyramidenfragment“ aus der Reihe „Hinter den Dingen – 5000 Jahre Wissensgeschichte zum Mitnehmen und Nachhören.“

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: Eine Produktion des Sonderforschungsbereichs „Episteme in Bewegung“ an der Freien Universität Berlin, federführend Kristiane Hasselmann, Jan Fusek, Armin Hempel und Katrin Wächter.

ALTÄGYPTISCHE PRIESTERIN: Ein Podcast mit Stephan Hartlepp. Außerdem mit Roman Gundacker, Jochem Kahl und Olivia Zorn.

Stimmen: Friederike Kroitzsch sowie Marcus Anhäuser, Anne Hartleib und Matthias Kelle. 

Stimmen: „Hinter den Dingen“ entsteht in Kooperation mit den Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Deutschlandfunk Kultur ist Medienpartner.